Das Subjekt sind immer die Anderen

Was folgt aus dem SYRIZA-Wahlsieg? Die bundesdeutsche Linke muss mehr liefern als Symbolpolitik und Lippenbekenntnissen, meint Mario Neumann

  • Mario Neumann
  • Lesedauer: 8 Min.
»Was tun?« ist eine Frage, die über den griechischen Moment hinaus reicht. Eine angemessene Antwort darauf finden wir nicht im Business as usual. Wir müssen fragen, was eine Erneuerung der Linken hier bedeuten kann, anstatt den nächsten Masterplan zu entwerfen, dem niemand folgt.

An Meinungsstärke hat es ja den wenigsten gefehlt in den Tagen nach der Wahl in Griechenland. Zur Koalitionsbildung mit ANEL im Besonderen, zur Staats- und Parteienkritik im Allgemeinen: alle hatten viel zu sagen, die meisten wussten es natürlich besser und einige wussten es sowieso schon immer. Manche wollen es nun noch etwas genauer oder sogar ganz genau wissen. Andere wiederum sind »wütend« und »besorgt«. Es gab gefühlt mehr linksdeutsche »Bauchschmerzen« über Syrizas Koalitionsentscheidung als über die Rolle der deutschen Regierung in der Krise oder über die rassistische Hetze gegen die »unverschämten Griechen«.

Letztlich haben sich aber dann doch fast alle am Riemen gerissen. So wurden nach kurzer Sortierphase endlich zahlreiche Erklärungen geschrieben. Tenor »Kritische Solidarität«, trotzdem natürlich: ein Lob geht raus nach Griechenland! Wir sind beeindruckt und besorgt. Und haben natürlich ein paar kluge Ratschläge und mahnende Worte für euch. Auf Deutsch, versteht sich. Dass jetzt jede Menge Veranstaltungen folgen werden, muss nicht extra erwähnt werden. Wir fliegen euch dann regelmäßig ein, damit wir endlich besser verstehen, was bei Euch zu Hause passiert, denn: Ein politisches Problem gilt bei uns dann als gelöst, wenn wir es verstanden haben.

War was?

So ziehen die Tage ins Land und man fragt sich, was aus den großen Worten vor und nach der Wahl geworden ist: »Historische Chance«, »Angriff auf das Winterpalais«, »Kampffeld Europa«, »We start from Greece - We change Europe« – durchaus ernst gemeinte Ankündigungen aus Deutschland, aus denen bisher leider nicht viel oder sogar gar nichts folgte. War ja auch nichts geplant. Insgesamt erinnert das alles an das passiv-bequeme Verhalten eines Fußballfans auf der Tribüne: vom Zuschauen ergriffen.

Das gilt nicht für alle, aber für viele – von Linkspartei (was macht die eigentlich gerade? Strömungskampf?) bis radikale Linke. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist die Überraschung, mit der der Wahlsieg hier aufgenommen wurde. Obwohl wir von dieser Möglichkeit seit Jahren wissen, ist sie hierzulande nicht antizipiert und kein nächster Schritt vorbereitet worden. Die deutsche Eule der Minerva wartet eben immer die Dämmerung ab, ehe sie sich rührt. Sie denkt am liebsten rückwärts und über die Politik der anderen nach – das ist aber kein Ausweis intellektueller Weisheit, sondern von politischer Ohnmacht.

Warum die deutsche Nabelschau an dieser Stelle? Weil die Situation in Griechenland uns alle adressiert und in unserer Reaktion die Wahrheit über unseren desolaten politischen Zustand abzulesen ist. Und es ist ein Armutszeugnis, dass - trotz fünf Jahren erbitterter Kämpfe in Südeuropa und großartigen neuen Schöpfungen der gesellschaftlichen Linken dort - fast nichts davon in Deutschland angekommen und aufgenommen worden ist. Das gilt mindestens seit den Platzbesetzungen 2011. Statt dieser Auseinandersetzung suchen die Salonstrateg_innen den goldenen Weg zu Parteiaufbau und Gegenmacht lieber bei der Lektüre ihrer Lieblingsklassiker. Und ihr Blick nach Spanien oder Griechenland ist häufig nicht auf das Neue gerichtet, sondern ein selbstzufriedener Versuch, ihren Gramsci, Marx oder Agnoli dort zu verifizieren. So läuft die mosaiklinke Strategiedebatte. Man(n) ist unter sich. Hört noch jemand zu?

Back to the roots

Wir erleben mit dem Wahlerfolg von Syriza eine politische Offensive der Linken, die in dieser Form und in Europa die erste seit mindestens 25 Jahren ist. Wir sind dabei Zeug_innen eines Umbruchs innerhalb der gesellschaftlichen Linken, der sich auf nahezu all ihre Gewissheiten erstreckte und den Erdrutschsieg von Syriza erst möglich gemacht hat. Wir haben gesehen, wie sich eine ganze Gesellschaft erhoben hat gegen das Diktat der Alternativlosigkeit und wie in dieser Erhebung eine neue Kollektivität und Subjektivität entstanden ist, die linke Politik wieder zu einer Frage des Alltags, der sozialen Praxis, der Haltung gemacht hat. Schluss mit dem Gerede! Schluss mit Welterklärung und Haarspalterei! Schluss mit euren Fahnen, euren Identitäten, euren Organisationsmodellen! Und Schluss mit dem Vertagen der Entscheidung: Solidarität beginnt hier und jetzt, entscheide Dich!

Ein solcher Kampf kann nicht ohne eine Hoffnung begonnen werden. Aber diese Hoffnung kommt nicht aus der Theorie, nicht aus den Versprechen aufs Übermorgen. Im Blick nach rechts und links, auf Freund_innen, Kolleg_innen und Mitstreiter_innen, ist die Hoffnung entstanden, dass man es gemeinsam und kollektiv mit den Mächtigen aufnehmen kann. Die vielen kleinen Gesten der Entschlossenheit, des Widerstands, des Unbeugsamen haben eine organisch verbundene Gesellschaftlichkeit der Linken geschaffen. Sie wurde politisch von Syriza gebündelt - in einer Mischung aus glaubwürdiger Emphase für die Praktiken der Solidarität und einem bewegten Leninismus des 21. Jahrhunderts. Eine Vertagung des eigenen Anfangs in die Zukunft konnte es dabei nicht geben. Vielmehr hat sich eine kommunistische Kreativität entwickelt, die sich an der unkonventionellen Konfliktbearbeitung im Hier und Jetzt beweist und nicht an ideologischer Unbeirrbarkeit.

Der Erfolg von Syriza und der gesellschaftlichen Linken hat sich so vor allem an einem Kriterium entschieden: Glaubwürdigkeit. Syriza hat auf der Seite des Anderen, des Widerstands gestanden und diesen nicht als Mittel zum Parteizweck behandelt. Auch das Führungspersonal hat sich öffentlichkeitswirksam an Polizeiketten betätigt, viele kommen aus den sozialen Bewegungen, viele aus dem Volk, wenige haben jahrzehntelange Parteikarrieren hinter sich. Und so haben sie es nun bis in die Staatsapparate gebracht und natürlich ist das erst mal ein Grund zur Freude. Was denn sonst?

Regieren als Protest

Viele Kabinettsmitglieder haben nun auch in ihren ersten Regierungsschritten eine solche Treue verkörpert: Demut gilt nicht der Ordnung, nicht den Hierarchien der Macht, nicht dem Universitätsgrad, dem Konto- oder Berufsstand. Demütig ist man vor den Subalternen und denen, die sich widersetzen. Und zumindest die ersten politischen Vorstöße tragen diese Handschrift. Aktuell ist die Regierungstätigkeit in Griechenland damit eine Umschlagstelle, den politischen Konflikt um das Krisenregime zurück nach Europa zu bringen – aber eben als politische Frage, von unten nach oben.

Das ist natürlich alles kein Kommunismus, sondern nur ein Korridor für eine neue Qualität politischer Zusammenstöße. Daran wird sich die Regierung in Zukunft messen lassen müssen. Darin hat aber auch die Grenze der Staats- und Regierungstätigkeit Name und Anschrift: Merkel, Deutschland, Troika, EZB. Da wird es richtig spannend, bietet das doch die Möglichkeit einer populären Politisierung dieser Grenze.

Und darin liegt eine historische Chance, ein politischer Bruch mit der Alternativlosigkeit der neoliberalen Ordnung. Auf Dauer stellen lässt sich das natürlich nur, wenn einerseits Bewegungen, Parteibasis und Gesellschaft die Richtung dieser Übersetzung durch politischen Druck aufrecht erhalten. In Griechenland heißt das »fördernde Opposition«. Andererseits muss es überhaupt einen europäischen Möglichkeitsraum für eine Protestregierung geben. Nach Lage der Dinge kann er nur erkämpft werden. Auf Hollande und Renzi haben sich schon andere verlassen.

Allerdings ist genau dies die Stelle, an der die deutsche Linke nun gefragt ist. Und zwar mit mehr als Symbolpolitik und Lippenbekenntnissen. Die griechische Frage ist eine europäische und eine deutsche Frage, eine Frage europäischer Innenpolitik; sie ist gleichzeitig eine Aufforderung, sich einem gesellschaftlichen Aufbruch anzuschließen. Zuschauen ist nicht. Sie muss die machtpolitische Unterlegenheit Griechenlands zu Hause relativieren, weil sie sich im Zentrum des Geschehens befindet.

Das ist auch unsere politische Verantwortung, so aussichtslos sich das auch anhören mag. Versagt der Versuch einer griechischen Auflehnung gegen das deutsche Europa, darf niemand mit dem Finger nach Südeuropa zeigen. Dann haben wir alle eine Schuld. So viel kollektiver Existentialismus muss sein.

They start from Greece – and now?

Auch, weil es um mehr geht als um internationale Solidarität. Es geht um die organische Verbindung zu einer Alternative jenseits von autoritärem Neoliberalismus und seiner rechten Pseudo-Antwort. Die Neuformierung der griechischen Linken ist dabei nicht weiter weg als Gramsci. Jede_r, der in den letzten Jahren in Griechenland war, weiß, dass sich viele Erfahrungen nach hier übertragen lassen, dass sie auch uns etwas sagen. Das ist zuerst eine Frage unserer kollektiven Subjektivität und unserer Leidenschaft. Und das ist eine Frage des Bruchs mit dem etablierten Politikbetrieb. Politik von unten macht man nicht bei Günther Jauch und im SPIEGEL. Sie muss sich mit denen verbünden, die von diesem medialen Spektakel ausgeschlossen sind. Das ist die Öffentlichkeit, die wir suchen und schaffen sollten.

Dienst nach Vorschrift, Realitätsflucht und bezahltes linkes Beamtentum werden weiterhin nicht helfen, Menschen wirklich zu bewegen – genauso wenig wie ein Parteiapparat, der den politischen Entwicklungen nur hinterherläuft und sich ansonsten mit Internas beschäftigt., anstatt mit denjenigen, die man zu repräsentieren verucht. Der linke Gehorsam gegenüber den etablierten Formen der Politik, in unserem Alltag und unseren Lebensformen kann nur schwer kaschiert werden vom intellektuellen Nonkonformismus unserer Rede. Und die weltlose Selbstsicherheit des Seminar-Marxismus ist trügerisch. Alternativ jedoch Syriza-Fähnchen zu schwenken, löst das Problem auch nicht - sondern überspringt es. Das ist wieder Fußball: Erfolgsfans.

Es gibt keine europäisch vereinbarte Arbeitsteilung des Risikos, sich mit den Herrschenden anzulegen und sich in die reale Auseinandersetzung zu begeben. Der Politikstil, von etwas zu reden, das man selbst nicht bereit ist zu tun, muss endlich aufhören. Das ist keine Frage der Radikalität. Und wir sollten uns daran erinnern, was den Erfolg der griechischen Linken möglich gemacht hat: der schöpferische Ungehorsam der Solidarität, des Gemeinsamen. So entsteht die Macht und Hoffnung derjenigen, deren Lage aussichtslos scheint. Und nur so kann ein politisches Projekt entstehen, das Menschen wirklich ergreift. Das wird dauern, keine Frage.

Vorerst heißt es daher: Wir sehen uns in Frankfurt, bei Blockupy, vor der EZB. Dort müssen wir nicht nur zeigen, dass wir den Ruf aus Griechenland gehört haben, sondern auch ein Bild praktischer Intervention entwerfen, das unsere nahe politische Zukunft tragen kann. Ein »Ja, so könnte es gehen.«

Mario Neumann lebt in Berlin und ist organisiert in der Interventionistischen Linken (IL). Er ist Teil der »blockupy goes athens«-Gruppe.

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