Vom Übergang zum Sozialismus

Über Lohnsenkung durch Geldpolitik, Lehren aus der Nachkriegsgeschichte und die Verwirklichung objektiver Vernunft. Ein Beitrag zur Debatte um die linke Zukunft

  • Herbert Schui
  • Lesedauer: 10 Min.

Die wesentliche Frage zur Zukunft LINKEN ist im Einladungsbrief der Parteivorsitzenden zum Zukunftskongress gestellt: »Wie wollen wir die Gesellschaft verändern, an welchen Widersprüchen setzen wir an, mit wem wollen wir das gemeinsam tun?« Der grundlegende Widerspruch, das ist die hohe und zunehmende Armut – in Deutschland ebenso wie in anderen Industrieländern. Angesichts des technischen Entwicklungsstandes, der hohen und weiter steigenden Produktivität der Arbeit ist dies absurd. Dieser Widersinn muss nicht umständlich erklärt werden. Den meisten ist er bewusst. Die Linke allerdings wird es noch häufiger laut sagen, auf eine griffige Formel bringen müssen.

Dieser Absurdität kann ein Ende gesetzt werden durch eine andere Verteilung und Verwendung des Bruttosozialproduktes. Das spricht unsere Partei erneut an mit der Kampagne »Das muss drin sein«.

Wie aber ist die Verteilung als nächste Forderung verbunden mit dem Ziel des Sozialismus? In der Tat, in den Debatten fehlen allzu oft die »notwendigen Verbindungen zu den Kräfteverhältnissen und die Frage des Übergangs« – so der Einladungsbrief.

Ein wenig aus der Nachkriegsgeschichte lernen

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bietet viele systematische Anhaltspunkte zur Frage des Übergangs: Zunächst, dazu gibt es viele Belege, war die unmittelbare Nachkriegszeit in allen Industrieländern gekennzeichnet durch eine politische Verschiebung nach links. Ein Zurück zu den Vorkriegsverhältnissen, zu Arbeitslosigkeit und Elend sollte es nicht geben. Der Staat sollte für Vollbeschäftigung sorgen. Das war die Auffassung der Mehrheit. Danach mussten sich auch konservative Parteien richten. Der Wohlfahrtsstaat, kräftige Lohnsteigerungen – das war das Programm der Nachkriegszeit. Diese Politik konnte nicht im Interesse der Unternehmerschaft sein. Denn Verteilung zugunsten der Löhne und des Wohlfahrtstaates senkt die Kapitalrentabilität.

Ein kritisches Niveau der Kaptalrentabilität wurde offenbar zu Ende der 1960er Jahre erreicht. Die gute Konjunktur allerdings erlaubte es den Unternehmen, ihre Rentabilität durch Preissteigerungen zu verteidigen. Die Lösung der Inflationsfrage wurde im Monetarismus gesucht, d.h. in einer Verknappung von Geld und Kredit durch hohe Zinsen. Das dämpfte das Wachstum, entsprechend schwieriger war es für die Unternehmen, die Preise zu erhöhen. Allerdings führte das niedrige Wachstum zu Arbeitslosigkeit, was wiederum die Verhandlungsposition der Gewerkschaften schwächte. Entsprechend höher konnte – wenngleich bei mäßigem Wachstum – die Kapitalrentabilität ausfallen. Diese Lösung wurde von den sozialdemokratischen Parteien zum Regierungsprogramm gemacht, in Westdeutschland unter der Regierung Helmut Schmidt. Diese für die Unternehmen komfortable Lösung (mäßiges Wachstum, Arbeitslosigkeit, geringe Lohnsteigerungen, hohe Rentabilität) kennzeichnet die Entwicklung seit Mitte der 1970er Jahre.

Ein letzter Versuch, die Verteilungspolitik durchzuhalten, wurde 1981 in Frankreich mit der Wahl Mitterands bzw. mit dem Erfolg der Sozialisten und Kommunisten bei den Parlamentswahlen 1982 unternommen. Die Verstaatlichung der großen Industrie und der Finanzunternehmen konnte verhindern, dass das Unterschreiten der von privaten Unternehmen festgelegten Mindestkapitalrentabilität zum Hindernis für die Verteilungspolitik würde. Die französische Politik scheiterte jedoch an der Außenwirtschaftsfrage. Besonders das höhere Wachstum der französischen Wirtschaft führte zu einer Zunahme der Importe, die nicht ausgeglichen wurde durch steigende Exporte – vor allem, weil das Wirtschaftswachstum der Haupthandelspartner, so Westdeutschlands, wesentlich niedriger war. Hinzu kam die vergleichsweise hohe Inflationsrate in Frankreich. Sie lag schon 1980 ähnlich wie in den USA bei 13 Prozent; sie war nicht die Folge der Politik der neuen Regierung. Ab 1983 wurde versucht, die Inflationsrate, das Defizit im Staatshaushalt und in der Handelsbilanz mit der sogenannten politique de la rigueur (Verringerung der Staatsausgaben, Druck auf den Lohn) abzusenken. Damit fand der französische Versuch sein Ende.

Monetarismus: Lohnsenkung durch Geldpolitik

Das vorrangige Ziel des Monetarismus aber war nicht, die Inflation zu bekämpfen. Sir Alan Budd (von 1970 bis 1974 unter Thatcher Senior Economic Advisor des Finanzministeriums, von 1991 bis1997Chief economic adviser to the Treasury) stellt klar: Viele in der damaligen Regierung, so Budd, »haben nie daran geglaubt, dass man mit Monetarismus die Inflation bekämpfen kann. Allerdings erkannten sie, dass [der Monetarismus] sehr hilfreich dabei sein kann, die Arbeitslosigkeit zu erhöhen. Und die Erhöhung der Arbeitslosigkeit war mehr als wünschenswert, um die Arbeiterklasse insgesamt zu schwächen. (…) Hier wurde – in marxistischer Terminologie ausgedrückt – eine Krise des Kapitalismus herbeigeführt, die die industrielle Reservearmee wiederherstellte, und die es den Kapitalisten fortan erlaubte, hohe Profite zu realisieren.« (The New Statesman, 13. Januar 2003, S. 21)

Die Theorie des Monetarismus (Preissteigerungen sind die Folge übermäßiger Geldversorgung) wurde zur unbezweifelten Wahrheit der Wirtschaftswissenschaft, der Studierenden, der Journalisten und Politiker. Die Inflationserklärung des Monetarismus macht einen beachtlichen Teil der Hegemonie im Sinne von Gramsci aus. Die wirtschaftswissenschaftliche Rechte hat hier die Meinungsführerschaft übernommen – und das nicht einzig im Lager unserer politischen Gegner.

Neoliberalismus: Aus Gründen der Freiheit auf Lebensstandard verzichten

Vom Grundsatz her gehört der Monetarismus zum Neoliberalismus. Das lässt sich leicht mit seinen prominenten Vertretern wie Milton Friedman, Karl Brunner oder Alan Meltzer nachweisen. Was uns als Die Linke neben vielem Anderem am Neoliberalismus interessieren muss, ist dessen Feststellung, dass höchstmögliche Bedarfsdeckung oder Maximierung des Sozialprodukts nicht der Zweck des Wirtschaftens sein darf, weil dies die Freiheit beschränke und so der Weg zur Knechtschaft sei. Hayek schreibt, dass die »Wohlfahrtsökonomie« auf einem grundsätzlichen Irrtum beruhe, weil »die Grundidee der Maximierung der Bedürfnisbefriedigung (oder Maximierung des Sozialprodukts) nur einer Einzelwirtschaft angemessen ist, nicht jedoch der spontanen Ordnung einer Katallaxie [einer liberalen Gesellschaftsordnung], die keine gemeinsamen konkreten Ziele hat.« Entsprechend müssen, so Hayek weiter, »alle Bestrebungen, eine ‚gerechte‘ Verteilung sicherzustellen, (…) darum darauf gerichtet sein, die spontane Ordnung des Marktes in eine Organisation umzuwandeln, mit anderen Worten, in totalitäre Ordnung«. (Friedrich August von Hayek: Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung, Ordo 1967, S. 11ff.) Richtig daran ist ohne Zweifel, dass ein keynesianischer Interventionsstaat mit seinem Ziel des Wohlfahrtsstaates und der Vollbeschäftigung die Freiheit der Unternehmen einschränkt. Ziel ist also Freiheit (wessen Freiheit?) – der Preis der Freiheit ist für viele Arbeitslosigkeit und Armut. Zu beachten ist, dass die Glücksökonomie oder die Wohlfühlindizes ähnliche Ziele verfolgen. Die Politik will wenig handfeste Ziele festlegen, Ziele, bei denen nicht eindeutig überprüft werden kann, ob sie verwirklicht worden sind.

Hayeks Feststellung ist nicht einfach akademisches Rankenwerk. Im Grundsatzprogramm der CDU von 1978 heißt es: »Wir würden für die Soziale Marktwirtschaft auch dann eintreten, wenn sie weniger materiellen Wohlstand hervorbrächte als andere Systeme. Es wäre unerträglich, Güter auf Kosten der Freiheit zu gewinnen.«

Politisches Ziel des Neoliberalismus ist also, in den Industrieländern mit der Armut zu versöhnen, weil nämlich – so das Argument – ein politisches Programm, das darauf abzielt, alle produktionstechnischen Möglichkeiten zu nutzen, um den Lebensstandard zu erhöhen, zu einer »totalitären Ordnung« führe.

Das Ende der Sozialdemokratie

Bei der Lösung der Frage, wie denn der produktionstechnische Stand der Industrieländer genutzt werden könnte für die Steigerung der allgemeinen Wohlfahrt, hat die Sozialdemokratie nach anfänglichen Erfolgen versagt: Sie hat die Politik und die Ziele ihrer Gegner übernommen. Sie hat zugelassen, dass die organsierte Unternehmerschaft einen beträchtlichen Teil der Macht im Staate ausübt. In diesem Sinne ist an das Godesberger Programm zu erinnern. Als Zeitdokument versorgt es uns mit guten Gründen für einen großen öffentlichen Produktionssektor.

Sicherlich hat sich die SPD im Godesberger Programm von 1959 koalitionsfähig gemacht. Aber den Widerspruch zwischen dem Entwicklungsstand der Produktivkraft und den Produktionsverhältnissen, die eine Nutzung dieses Entwicklungsstandes verhindern, ist in diesem Programm noch deutlich benannt: Die SPD »will die Kräfte, die durch die industrielle Revolution und durch die Technisierung aller Lebensbereiche entbunden wurden, in den Dienst von Freiheit und Gerechtigkeit für alle stellen. Die gesellschaftlichen Kräfte, die die kapitalistische Welt aufgebaut haben, versagen vor dieser Aufgabe unserer Zeit. Ihre Geschichte ist eine imponierende Entfaltung technischen und wirtschaftlichen Aufschwungs, aber auch eine Kette verheerender Kriege, riesiger Massenarbeitslosigkeit, enteignender Inflationen und wirtschaftlicher Unsicherheit.« In der Tat, das trifft unverändert zu. Also ist es nur folgerichtig, die Macht dieser gesellschaftlichen Kräfte zu beschränken.

Die Godesberger SPD stellt fest: »Mit ihrer durch Kartelle und Verbände noch gesteigerten Macht gewinnen die führenden Männer der Großwirtschaft einen Einfluß auf Staat und Politik, der mit demokratischen Grundsätzen nicht vereinbar ist. Sie usurpieren Staatsgewalt. Wirtschaftliche Macht wird zu politischer Macht.«

Also muss die Demokratie vor diesen systemtischen Übergriffen geschützt werden. Denn schließlich geht »alle Staatsgewalt (…) vom Volke aus« – so Artikel 20, Satz 2 des Grundgesetzes. Alle Staatsgewalt, wie zu betonen ist. Der Satz 4 des Artikel 20 legitimiert den Widerstand gegen die Feinde der Demokratie: »Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.« Das Godesberger Programm will die Frage in dieser Weise lösen: »Wo mit anderen Mitteln eine gesunde Ordnung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse nicht gewährleistet werden kann, ist Gemeineigentum zweckmäßig und notwendig.«

Im Koalitionsvertrag der SPD mit der CDU/CSU von 1966 (die erste große Koalition) findet sich diese Forderung sicherlich nicht. Übermäßiger außerparlamentarischer Aufruhr gegen »die führenden Männer der Großwirtschaft« lässt sich mit den Notstandsgesetzen von 1968 unterbinden. Zwar legitimiert Artikel 20 (4) das Recht zum Widerstand (er wurde mit den Notstandsgesetzen in das Grundgesetz eingefügt), aber – so fragten sich damals die Zeitgenossen – wie weit darf dieser Widerstand angesichts der Notstandsgesetze gehen?

Der Übergang zum Sozialismus

Die Projekt, den technischen Fortschritt durch eine angemessene Verteilung und Verwendung des Volkseinkommens (und damit der Produktion) für allgemeine Wohlfahrt zu nutzen, hat also seine Geschichte. Auch wenn dieses Vorhaben einstweilen gescheitert ist: die Gründe für sein Scheitern verdeutlichen, dass das Projekt bei der gegebenen Eigentumsordnung sehr rasch an Grenzen stößt. Denn was ist notwendig, um dieses Vorhaben zu verwirklichen, d.h. nicht auf halbem Weg stehen zu bleiben, wenn die Unternehmerschaft die Gegenoffensive startet? Die muss einsetzen, weil die Verteilungspolitik die Kapitalrentabilität senkt. Deswegen ist von einem bestimmten Punkt an mit Produktionsverlagerungen, mit nachlassenden Investitionen, mit steigenden Preisen (soweit die Konjunktur dies zulässt) und mit außenwirtschaftlichen Defiziten vor allem in der Handelsbilanz zu rechnen. All das macht besonders für die großen Produktions- und Finanzunternehmen eine Eigentumsform notwendig, die es erlaubt, die Preise und die Produktionsstandorte politisch zu bestimmen, Investitionen auch bei geringer Profitrate zu gewährleisten und – grundsätzlich – den Einfluss der Großwirtschaft auf die Politik zu beseitigen. Es geht, nimmt man alles zusammen, um die Macht im Staat. Das geplante Freihandelsabkommen der EU mit den USA (TTIP) will diese Machtfrage im Interesse der großen transnationalen Konzerne lösen. Es zieht die Grenzen für das Verteilungsprojekt noch enger, als dies bis dahin der Fall ist. Denn der geplante Investitionsschutz ermöglicht es bekanntlich den Unternehmen, vom Staat Schadensersatz zu verlangen, wenn die erwartete Rendite als Folge staatlicher Maßnahmen ausbleibt.

Die Frage nach dem Übergang zum Sozialismus ist also mit all den Maßnahmen beantwortet, mit denen der Widersinn von Armut in den technisch hochentwickelten Industrieländern zu beseitigen ist. Das Ziel Sozialismus ist identisch mit dem vernunftgeleiteten Gebrauch aller vorhandenen produktionstechnischen Voraussetzungen. Es geht, wenn man so will, darum, objektive Vernunft zu verwirklichen. Ein höherer Lebensstandard ist hier sehr umfassend zu verstehen: Eingeschlossen sind eine geringere Arbeitszeit bei gleichem Lohn, weniger Stress bei der Arbeit, indem nicht die Menschen den Maschinen, sondern die Maschinen den Menschen angepasst werden, mehr öffentliche Gratisdienstleistungen, eine umweltfreundliche Produktion.

Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Der Weg, der Übergang, das ist die Serie derjenigen Herausforderungen, denen wir uns stellen, das ist die Abfolge von konsequenten Lösungen praktischer Gegenwartsfragen. Der Einwand »Reformen statt Sozialismus?« verliert dann seinen Gehalt, wenn es bei der Lösung der jeweiligen praktischen Lebensfragen keine Tabus gibt, wenn sich eine Linke den Herausforderungen tatsächlich stellt. Dann vertritt sie das Interesse der Mehrheit des Volkes. Das wird ihr die Meinungsführerschaft, die Hegemonie verschaffen und so die Mehrheit bei Wahlen. Damit ist der Weg demokratisch. Denn, so Stéphane Hessel in seiner Streitschrift »Indignez-vous!«: Die Geschichte ist gemacht aus Sachverhalten, die aufeinander folgen, sie bedeutet, Verantwortung zu übernehmen für Herausforderungen. Verantwortung übernehmen treibt die intellektuelle und politische Energie an.

Herbert Schui war Professor für Volkswirtschaftslehre und Bundestagsabgeordneter der Linkspartei. Sein Beitrag ist zuerst hier erschienen.

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