»Ich kann nicht hören, ohne zu heulen«

Der Hamburger Bahnhof zeigt auf 3000 qm alles, was im Werk des Künstlers Dieter Roth mit Musik zu tun hat

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 5 Min.
Kein Künstler ist so leicht zu begreifen wie Dieter Roth (1930-1998). Er hat einfach immer das Gegenteil dessen getan, was der Kulturbetrieb tut. Jetzt kann man seine Kunst im Hamburger Bahnhof bestaunen.

Kein Künstler ist so leicht zu begreifen wie Dieter Roth (1930-1998). Er hat einfach immer das Gegenteil dessen getan, was der Kulturbetrieb tut. Der Kulturbetrieb verspricht uns Qualität, liefert aber bloß Quantität. Bei Roth, dessen Devise war: »Quantität, nicht Qualität!«, verhält es sich genau umgekehrt. Wo uns der Betrieb mit Meterware und Müll enttäuscht, besitzt Roths gewaltiger Ausstoß von Zeichnungen, Assemblagen, Installationen, Büchern, Platten eine sentimentalische Qualität.

Diese Qualität wird nirgendwo deutlicher als in seinen musikalischen Arbeiten. Sie sind nun in Berlin zu sehen und zu hören und beweisen, dass Roth mehr war als ein Parodist des Marktes oder ein Müllmann der Kunst. Und das gilt gerade auch dann, wenn er bloß am Klavier sitzt und Zeit schindet.

Das war 1976. Im Südfunk gab es damals die Sendereihe »Autorenmusik«; Autoren sollten ihre Lieblingsplatten vorspielen und schöngeistig dazu plaudern. Doch Roth wollte lieber ein gutes, hartes Stück Quantität abliefern, 60 von ihm persönlich totgeschlagene Minuten. Er setzte sich also ans Klavier, trillerte und trällerte vor sich hin und feuerte sich mit »... und weg mit den Minuten ... weg mit den Minuten!« an. Es ist die wahrhaftigste Sendung, die jemals im westdeutschen Radio ausgestrahlt worden ist.

Roths Selbstanfeuerung dient der Berliner Ausstellung als Titel. Mit »Und weg mit den Minuten. Dieter Roth und die Musik« füllt der Hamburger Bahnhof seine Rieckhallen auf der gesamten Strecke vor und hinter der »Gartenskulptur«, Roths monumentaler Installation, die ohnehin seit 2009 einen Saal dieser Hallen einnimmt.

Auch wer vor zehn Jahren die große Roth-Retrospektive in Basel oder Köln oder zuletzt die ebenfalls riesige Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart gesehen hat, wird in Berlin eine Fülle von faszinierenden Entdeckungen machen. Gleich hinterm Eingang hängt die hintergründige Arbeit »Listening / Rotes Blut« von 1972, die das Cover der Zeitschrift »Hör zu« so übertüncht, dass nur noch die Augen von irgendwem aus dem roten Anstrich lugen. Einen Saal weiter ist die Szene zu sehen, die Roth 1970 in Mauricio Kagels Film »Ludwig van« gestaltet hat.

Kagel führt Beethoven durch sein Geburtshaus; für das Bad war Roth zuständig. Er formte Beethoven-Büsten aus Schmalz und ließ sie in einer Wanne zergehen. Das ist der typische Spott des Großmeisters auf einen anderen Großmeister; Roth hat auch Hegels Schriften eingeweicht und in Wurstdärme gestopft. Einen Spott auf den Schmelz klassischer Musik sollte einer darin allerdings nicht erkennen. Denn obwohl sich Roths Musik nicht selten wie wüster Lärm anhört, war er ein Liebhaber des melancholischsten aller Klassiker, Franz Schubert, und konnte Lieder aus der »Schönen Müllerin« vortragen.

Es geht bei Roth gar nicht um »Neue Musik«, es geht um Produktion, um Groß-Produktion, es geht um Quantität, um enorme Quantität. So sind die 36 Stunden der »Langstreckensonate« (1978) und so sind - teils im Zusammenspiel mit Kindern und Freunden - Platten und Bänder ohne Ende entstanden. - Nicht, um Musikprofessoren zu erfreuen, sondern um eine volle Welt zu übertrumpfen und sich selbst in sie hineinzudrängen. Beleg dafür ist die »Musiktruhe« von 1979.

Die »Musiktruhe« ist eine von Roth selbst mit Platten gefüllte Jukebox. Einem trinkfesten Mann wie ihm darf es vor Roland Kaisers »Sieben Fässer Wein« nicht grausen, und dass er Tony Marshalls Schlager »Ich will mit dir spielen« eingestellt hat, erklärt sich wohl aus dessen erster Zeile: »Ich war ein Fremder unter Fremden«, die auf Roth, den »Schweizer im inneren Ausland«, unheimlicherweise passt. Sehr komisch ist, dass einige Singles in der Truhe von Roth selbst stammen und er sich also vorstellte, dass ein Zecher nach Kaiser, Marshall oder Pussycat einen Original-Roth anwählt.

Wie in allen andern Gattungen der Kunst interessiert ihn auch in der Musik nicht so sehr das Stück, sondern dessen Schicksal. Wie ergeht es meinem Werk in der Welt? Wer wählt meinen Schlager und nicht den von Heino? Weniger wichtig ist, was das im Einzelnen für eine Musik ist.

Roth beherrschte Klavier und Trompete einigermaßen und hat sich in seinem »Quadrupelkonzert« sogar ans Horn und an die Orgel gewagt. Bezeichnenderweise hat er aber die Aufnahmen der einzelnen Instrumente übereinanderspielen und mit allerlei Geräuschen versetzen lassen, sodass eher ein möglichst langes Band als ein durchdachtes Musikstück entstanden ist. Dieses strikt materialbezogene, quantitative Vorgehen unterscheidet ihn von allen anderen Künstlern, die mit Musik gearbeitet haben, und die Ausstellung stellt eine ganze Reihe Weggefährten von George Brecht bis Nam June Paik vor.

Die Vermutung liegt nahe, wer auf Quantität statt auf Qualität aus ist, könnte nur Langeweile produzieren. Doch die Obsession und Strenge, die in Roths Prinzip steckt, treibt Wunderbares und oft auch Anrührendes hervor. Man nehme nur sein »Tibidabo«.

In der Nähe von Barcelona waren ihm 1977 verstörende Geräusche aufgefallen. Er erkundigte sich und wurde auf einen Zwinger in Tibidabo verwiesen, in dem Hunderte von Hunden und auch einige Katzen hausten. Er fotografierte sie und erstellte eine 24-stündige Tonaufnahme, die er in Galerien abspielte, wobei gleich eine neue Aufnahme entstand: Galeriegeschwätz vor Tiermusik. Diesem Werk hat die Ausstellung einen Kellerraum gewidmet. Die Bilder der gefangenen Tiere sind auf Leisten geklebt und fortwährend ertönt ihr herzzerreißendes Jaulen. Der Künstler sagte dazu: »Ich kann nicht hören, ohne zu heulen, kann ich nicht. Weil ich seh die Hunde dahinter.« Und er sah auch sich selbst dahinter, wie seine Selbstporträts als Hund beweisen.

»Und weg mit den Minuten. Dieter Roth und die Musik«, Museum Hamburger Bahnhof, noch bis 16.8.2015. Zur Ausstellung erschien ein Katalog bei Edizioni Periferia, Luzern.

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