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Historische Figur nach dem Getümmel

Stephan Hebel versucht, ein Politikerleben auszumessen und einen Menschen dabei zu entdecken - im Gespräch mit Gregor Gysi

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 5 Min.

Wer ist eigentlich dieser Gregor Gysi? Die Frage mag im ersten Augenblick einen falschen Ton haben, denn welchen Politiker wenn nicht den Linksfraktionschef kennt man denn schon? Gysi war 25 Jahre überpräsent, ganz vorn in der Riege der Political Animals, für die einen Sehnsuchtsfläche und für die anderen Star, geliebt, gehasst, jedenfalls eine Marke. Aber kennt man ihn wirklich? Wie viel von dem Menschen Gysi steckt drin in dieser Bekanntheitsfigur, wer lebt da hinter der Oberfläche dieses listigen, rhetorisch oft brillanten Bundestagsabgeordneten, hinter verkörperter Wendegeschichte, ewigen MfS-Vorwürfen, den PDS-Konflikten?


Gregor Gysi/Stephan Hebel: Ausstieg links?: Eine Bilanz.
Westend. 224 S., br., 16,99 €.


In den politischen Gregor Gysi, jenen, der 1989 noch in der DDR die öffentliche Bühne betritt, ist schon immer die Geschichte einer ganzen geschichtlichen Etappe hinein projiziert worden. In ihm spiegelte man 25 Jahre Nach-Wende-Sicht, die Person wurde zu einer Art öffentlicher Vitrine gemacht, in der das Leben des Berliner Rechtsanwalts stellvertretend für das Leben einer bestimmten Generation der Ostdeutschen, für eine bestimmte Erfahrung des Umbruchs nach 1989 ausgestellt wurde. Und Gysi hat das auch nie ernsthaft zurückgewiesen, er hat eher damit kokettiert.

Gregor Gysi, das ist deshalb vor allem das öffentliche Bild, das von ihm gezeichnet wurde. Wieder und wieder übermalt, hat es inzwischen einen dicken Farbauftrag, schroffe Konturen, grelle Kontraste.

Es ist eines dieser Bilder, deren Motiv so allgegenwärtig ist: Der junge Ost-Anwalt mit den Kontakten zu den SED-Oberen, der die gescheiterte Staatspartei auf den steinigen und unsicheren Weg der Selbstveränderung führte. Der verhasste Ost-Sozialist, dem man stellvertretend übelnahm, dass nicht alles aus der DDR sich demütigem Verschwinden unterzog. Der beneidete Redner, gescheiterte Wirtschaftssenator, der Lafontaine-Freund und Lafontaine-Konkurrent. Der Mann mit der Gehirnoperation und den Herzinfarkten. Der Linkspolitiker, den man als »Reformer« bezeichnet, der aber der »heimliche Vorsitzende« ist und die einzige Erstliga-Wahlkampfmaschine dieser Partei.

Aber wer ist dieser Gregor Gysi wirklich? Stephan Hebel hat ihn über Jahre erlebt - aus jener Entfernung, die zu überwinden während einer Politikerkarriere kaum denkbar ist. Eine Überwindung dieser Distanz setzt bei dem einen das Interesse an der Wirklichkeit jenseits der eingeschliffenen Raster voraus - und bei dem anderen die Freiheit des Danach, ein Maß an Unabhängigkeit vom aktuellen Geschehen, von den Loyalitäten des Geschäfts, von der politischen Zurückhaltung, welche die herausgehobene Rolle in einer Partei abverlangt.

Diese Voraussetzung gibt es seit Anfang Juni 2015. Hebel beginnt sein Gesprächsbuch denn auch mit einem Hinweis auf die Bielefelder Rede, in der Gysi - von allen erwartet und doch als Spannungsbogen bis zuletzt inszeniert - seinen Abschied verkündete. Es ist nicht der erste, aber, so Hebel: »Diesmal ist es wohl wirklich ein Abschied für immer.« Also Bilanz ziehen. Versuchen, den Menschen hinter dem Politiker sichtbar zu machen. Wieder einmal. Gysi hat nicht erst ein autobiografisch geprägtes Politikerbuch vorgelegt. Es ist das fünfte oder sechste.

Immer waren es auf eine gewisse Weise auch programmatische Bücher - wohin soll die PDS gehen, was sind die Herausforderungen für die Linke, was ist aus der Erfahrung der Wende zu lernen? Einerseits. Aber Gysi ist andererseits alles andere als Programmmensch, kein Theoretiker, eher: der Entscheider. Derjenige, der einen Instinkt hat für die Gelegenheit, die man ergreifen muss, um zu erkennen, dass es wirklich eine ist.

Gysi erzählt darüber in jener Weise, die zu seinem Markenzeichen geworden ist: in Anekdoten. Keine historische Weggabelung, zu der ihm nicht etwas einfällt. Eine kurze Unterredung mit Gorbatschow, ein Treffen mit Mitterrand oder ein Gespräch mit Gauck kann dabei schon einmal auf die selbe Bedeutungsebene geraten wie eine Platte der Beatles. Gysi erzählt dann, er könne »das natürlich nicht beweisen«, aber er glaube, er »war der erste DDR-Bürger, der eine Beatles-Platte hatte. Die waren zu dem Zeitpunkt zumindest bei uns noch gar nicht richtig bekannt.« Man sieht dabei vor dem geistigen Auge sein Lächeln, den Kopf leicht zur Seite geneigt.

Natürlich spielt Gysi in diesen Anekdoten immer selbst die Hauptrolle, es ist ein Gespräch über ihn - und also vor allem ein Ich-Buch. Das gibt auch den Blick auf eine gewisse Eitelkeit frei. Wenn Gysi sagt, er könne »auch ohne Rundfunk und Fernsehen leben«, hat man ein paar Seiten vorher gerade von ihm erfahren, dass viele nach dem Ende seiner Politikerkarriere versuchten, ihn »mehr in Anspruch zu nehmen, weil viele davon ausgehen, dass ich mehr Zeit habe«. Gysi schätzt dieses Begehrtsein.

Stephan Hebel schreibt in seiner Einleitung, je näher der Rückzug Gysis aus der ersten Reihe rückt, desto stärker tritt die historische Figur aus dem Getümmel des politischen Alltags hervor. Hebel macht hier eine Unterscheidung zum Politiker Gysi. »Ausstieg links?« versucht denn auch die Annäherung an die ganze Biografie, an den Gregor Gysi, den es neben dem Politiker Gregor Gysi auch noch geben muss. Hebel versucht die Annäherung an einen Menschen.

Und was wird dieser Gregor Gysi nun machen? »Ich muss erst noch lernen, die Dinge anders zu organisieren. Ich muss lernen, Nein zu sagen. Ich muss mich schon ein bisschen zurücknehmen. Und das will ich auch.«

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