»Von Gott geschickt?« Oder Zufall?

Aharon Appelfeld sucht weiter nach den Geheimnissen seiner Rettung

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Er ist jetzt 83, und immer noch kreisen seine Gedanken um seinen möglichen frühen Tod. Aharon Appelfeld wurde 1932 in Czernowitz geboren, das damals zu Rumänien gehörte. Als er acht Jahre war, wurde seine Mutter von rumänischen Nationalisten umgebracht. Mit seinem Vater wurde er in ein Zwangsarbeitslager in Transnistrien verschleppt. Sie wurden getrennt; es gelang ihm zu fliehen. Er versteckte sich in den Wäldern, konnte sich später - er war blond und blauäugig - bei rumänischen Bauern verdingen. Schließlich schloss er sich den westlich vorrückenden Truppen der Roten Armee als Küchenjunge an. Soweit die Fakten aus Aharon Appelfelds Biografie, auf die er immer wieder in seinen Büchern zurückgegriffen hat. Kinder, die wie durch ein Wunder überlebten, während andere in den Tod getrieben wurden -, das beschäftigt ihn bis heute.

In diesem schmalen Buch geschieht etwas, worauf er selbst nicht hoffen durfte: Adam und Thomas können am Schluss ihre Mütter umarmen, von denen man die ganze Zeit beim Lesen gedacht hatte, dass sie getötet worden waren. Nur weil ihnen die baldige Deportation aus dem Ghetto vor Augen stand, entschlossen sie sich zu dem verzweifelten Schritt, ihre Kinder in den Wald zu bringen. Jede für sich - in welch auswegloser Lage muss eine Mutter sein, um einen Neunjährigen allein zwischen Bäumen zurückzulassen. Sie ahnten ja nicht, dass die beiden Jungen einander begegnen würden.

Unwillkürlich kommt einem »Hänsel und Gretel« in den Sinn, denn hier geht es um Zusammenhalt in schwierigen Situationen. Die Jungen kannten einander, waren in eine Schule gegangen, beide in die vierte Klasse, doch entstammten sie unterschiedlichen jüdischen Lebenswelten. Der strebsam belesene Thomas kommt wie der Autor aus gutbürgerlichen Verhältnissen. Der Vater als Gymnasiallehrer legte Wert auf Geistesbildung. »Das Lernen schützt uns«, hatte er zu den Leuten gesagt. Die ganze Zeit im Ghetto hatte Thomas über seinen Büchern gesessen. Adam, dagegen, Sohn eines Schreiners, hatte sich ganz und gar praktischen Dingen zugewandt, seiner Mutter geholfen, die in der Gemeinschaftsküche arbeitete, hatte Suppe und Brot ausgeteilt. Nun, im Wald, geht das mitgebrachte Brot bald zur Neige.

Aharon Appelfeld erzählt, wie die Kinder sich auf einem Baumwipfel ein Lager bauen - Adam ist natürlich der geschicktere, umsichtigere von beiden -, wie sie sich von Beeren und wilden Äpfeln ernähren, Wasser aus einem Bach trinken - und wie sie schließlich, bei allem Bemühen schon dem Verhungern nah, eine Kuh finden und ein Mädchen, das sie aus ihrer Schule kennen. Die kleine Mina ist offenbar zu Bauern geschickt worden, die sie gegen Bezahlung versteckten. Die Jungen bitten um Brot, und das Mädchen hilft - bis sie selbst in eine lebensgefährliche Situation gerät. Nun ist es an Adam und Thomas, sie zu retten …

»Ein Mädchen nicht von dieser Welt«: Der ganze Roman ist in ein märchenhaftes Licht getaucht. Das Schreckliche darf im Hintergrund bleiben, weil es die Leser ja wissen. »Ich habe das Gefühl, dass überhaupt nichts mehr logisch ist, seit es das Ghetto gibt«, sagt Thomas. »Man bringt die Alten weg. Warum tut man das? Und warum auch die Kinder? Was haben die Kinder Schlimmes getan und was die Alten? ... ›Sie sind Juden‹, antwortete Adam ruhig. ›Und nur weil sie Juden sind, muss man sie wegbringen?‹ ›Thomas, du musst dir einfach klarmachen, dass man die Juden nicht liebt.‹« Später wird das Gespräch fortgesetzt: »Sind wir etwa anders als andere Menschen? Vermutlich. Ich sehe keinen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden, beharrte Thomas. Adam verlor die Geduld. ›Die Juden haben schon immer leiden müssen!‹ ›Aber warum?‹ ›Das ist ein Rätsel … Wir werden dieses Rätsel heute nicht mehr lösen. Komm, erkunden wir den Wald.‹«

Schluss der Debatte. Aus Andeutungen begreift man, dass die Väter zur Zwangsarbeit verschleppt und die Großeltern mit einem Zug »nach Polen« deportiert wurden. Schüsse sind zu hören, die Kinder treffen auf einen verwundeten Mann, der wohl aus dem Ghetto geflohen ist. Ansonsten: Waldeinsamkeit, Hunger, Träume von den Eltern und Gespräche, die so gütig und herzerwärmend verständnisvoll sind, dass sich Erwachsene daran ein Beispiel nehmen könnten. Thomas ist fern von Religion erzogen, für Adam war es selbstverständlich, an Feiertagen mit seiner Familie in die Synagoge zu gehen. Im Wald erweist er sich als gläubiger Mensch. Und die Wirklichkeit gibt ihm Recht. Ob sie einen alten Mantel finden, um sich zudecken zu können, oder eben Mina, und dann erscheint sogar noch Adams Hund - er hält es für göttliche Fügung. Daraus kann er größere Zuversicht schöpfen als Thomas, der sich lediglich von Zufällen abhängig sieht. Da es für die Kinder im Wald allerdings immer wieder solche glücklichen Zufälle gibt - es hätte ja auch alles ganz anders ausgehen können -, scheint der Autor eher Adam Recht zu geben. Vielleicht ist er früher ja mal so wie Thomas gewesen und hat erst nach seiner Rettung zu Adams Lebensweisheit gefunden?

Aharon Appelfeld: Ein Mädchen nicht von dieser Welt. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Rowohlt Berlin. 125 S., geb., 18 €.

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