Psychotherapie und Politik
Geflüchtete mit psychischen Problemen brauchen medizinische Hilfe und eine Lobby
Eike Leidgens spürt die Folgen von Asyldebatten und Asylrechtsverschärfungen am eigenen Leibe. «Die Verschärfung des Asylrechts sollte ja auch uns Helfer entlasten. Von einer Entlastung haben wir nichts gemerkt, im Gegenteil, dadurch entstanden nur weitere psychische Probleme für viele unserer Klienten.» Leidgens ist Diplom-Psychologe und auf Behandlungen von Menschen mit traumareaktiven Störungen spezialisiert. Konkret therapiert er Folterüberlebende, die unter Posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen, Suchtproblemen, Essstörungen und Suizidgefährdung leiden. Und unter der deutschen Asylrechtsrealität.
20 Stunden pro Woche arbeitet der 30-Jährige für die Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum. Exakter gesagt: 20 bezahlte Stunden, in denen er 24 Klienten betreut. «Ich versuche, all die Arbeit unterzubringen, leiste auch Überstunden, aber der Andrang ist eigentlich nicht zu schaffen.»
Auf seinem Schreibtisch: Viel Papier, ein Computer und eine Freud-Statue, die aber keine Rückschlüsse auf seine therapeutischen Vorlieben zulasse, wie Leidgens betont. Seine Fälle haben es in sich. Doch es geht nicht nur darum, die seelischen Folgen von Folter und Unterdrückung aufzuarbeiten. Manches Problem entsteht erst in Deutschland.
Zwei bis drei Jahre müssen syrische Familienväter nach ihrem Asylantrag darauf warten, dass ihre Familien ihnen nach Deutschland folgen können. Innere Konflikte sind die Folge. Sollen die Syrer in Deutschland bleiben und ihre Familien all die Zeit alleine lassen? Oder sollen sie nach Syrien zurückkehren, um Frau und Kinder zu beschützen? «Sie fragen sich auch, warum niemand humanitäre Hilfe leistet», so Eike Leidgens. «Warum gibt es keine Luftbrücken, um Zivilisten in eingeschlossenen Regionen mit Nahrung zu versorgen? Warum werden die Flüchtlingslager nicht ausreichend versorgt?», fasst er die Sorgen seiner Klienten zusammen.
Auch hier spiegelt sich die große Politik in den Psychen von Eike Leidgens Patienten wider. Nach Aussetzung des Dublin-Verfahrens musste ein Klient nicht mehr befürchten, nach Ungarn zurück geschickt zu werden, wo eine Familienzusammenführung schlicht nicht vorgesehen ist. «Er leidet unter massiven Schuldgefühlen, weil er seiner Familie nicht helfen kann. In Deutschland hat er nun immerhin die Perspektive, dass er seine Frau und Kinder nach einigen Jahren nachholen darf.»
Doch auch in Deutschland steht die Familienzusammenführung unter Beschuss. Bundesinnenminister Thomas de Maizière kündigte an, sie auszusetzen. «Der Nachzug soll auch bei uns beendet werden. Meine syrischen Patienten sind verzweifelt, sauer und enttäuscht», sagt Eike Leidgens. Und er? «Mir geht es genau so. Aber ich versuche, Hoffnung und Kraft zu geben und Auswege zu finden.»
Hoffnung und Kraft geben - das scheint leichter gesagt als getan. «Die Menschen wohnen über viele Jahre auf engstem Raum, dürfen nicht arbeiten, haben keine Perspektive. Das führt mitunter zu Depressionen», weiß Leidgens. Oft sei ein Einzelzimmer segensreicher als eine lange Psychotherapie.
Auch das Asylverfahren bedeute grundsätzlich massiven Stress, je schlechter es läuft, desto mehr. «Belastend ist auch die hohe Dauer des Verfahrens und die damit verbundene Ungewissheit.» Auch posttraumatischer Stress habe Einfluss auf die Symptomatik. «Das ist wissenschaftlich immer wieder beschrieben worden und auch meine alltägliche Erfahrung.»
Scharfe Kritik übt Leidgens am Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Die Herrin über die Asylanträge wirbt zwar mit dem Slogan «Den Menschen im Blick. Schützen. Integrieren». Doch die Praxis sehe anders aus. «Das BAMF sucht nach Widersprüchen und Lücken in den Aussagen von Asylbewerbern, bezweifelt dann die Glaubwürdigkeit des Antragstellers. Doch Gedächtnislücken sind ein typisches Symptom einer Posttraumatischen Belastungsstörung.» Schuld und Scham spielten auch eine Rolle, wenn beispielsweise eine Vergewaltigung zunächst beschwiegen werde.
Dabei gebe es Alternativen. «Man sollte frühzeitig untersuchen, ob ein Flüchtling ein Folterüberlebender ist. Die Untersuchung muss professionell, offen, respektvoll und wohlwollend sein. Danach könne man dem Flüchtling einen Aufenthalt zusprechen. »Das«, so Leidgens, »würde die lange Ungewissheit zumindest abmildern.«
Der Mann im blauen Pulli behandelt auch einen ehemaligen Autohändler aus Kosovo, der einst mit dem serbischen Militär zusammenarbeitete. »Er musste die Autos reparieren«, betont Leidgens. Doch das nimmt man dem Paar heute noch übel. »Erst wurden ihnen die Fenster eingeworfen, dann der Hund getötet. An einem Abend drangen drei bewaffnete Männer in das Haus ein, schlugen den Mann mit Knüppeln nieder und vergewaltigten die Frau. Als der Mann aus dem Fenster sprang, schossen sie ihm hinterher.«
Schließlich brannten die Täter das Haus ab. Die Polizei habe das Ehepaar, beide Roma, nicht schützen können. »Der Mann vermutet, dass die Täter mit der UCK verbunden und damit vermutlich mit verschiedenen staatlichen Stellen verquickt sind.«
Nun lebt das Paar in Bochum. Doch ihr Asylantrag hat wenig Aussicht auf Erfolg. Schließlich gilt Kosovo seit der jüngsten Asylrechtsverschärfung als »sicherer Herkunftsstaat« - so wie der gesamte Westbalkan. »Der Antrag gilt entsprechend als offensichtlich unbegründet. Das verkennt die Leidensgeschichte der beiden, der Mann fühlt sich gekränkt, weil seine Leidensgeschichte nicht anerkannt und ihm Unglaubwürdigkeit unterstellt wird.« Die Symptome des massiv Traumatisierten hätten sich verstärkt.
Der Autohändler hatte gleichsam Glück im Unglück. »Natürlich hat der Mann kein Video von der Tat, aber massive Narben auf dem Rücken und Fotos vom abgebrannten Haus.« Nach diversen Gutachten und Gerichtsverfahren bekommt er eventuell einen Aufenthalt aus gesundheitlichen Gründen. »Doch all diese Schritte bedeuten weiteren massiven Stress«, betont Leidgens. Die Formulierung »sicheres Herkunftsland« stößt dem Psychologen sauer auf. »Das ist eine zynische Bezeichnung, wenn es um Kosovo geht.«
Vielen seiner Kolleginnen und Kollegen wird nachgesagt, sie würden am Liebsten die kleinen Neuröschen von Menschen aus der Mittelschicht kurieren. Warum wählte Leidgens den harten Weg? »Ich habe mich schon während des Studiums für traumareaktive Störungen interessiert. An der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum finde ich vor allem die Verbindung zur politischen Arbeit spannend.« Sie sei ein psychosoziales Zentrum, aber auch eine Menschenrechtsorganisation und eine Lobby ihrer Klienten. Es gelte, die Gesellschaft zu sensibilisieren und auf Bedürfnisse und politische Missstände aufmerksam zu machen. »Wir haben auch den klaren Anspruch, auch die Ursachen der Traumatisierungen zu behandeln.«
Und manchmal ist die Welt ein klein wenig komplizierter, als schnelle Schlagzeilen vermuten lassen. Ja, Islamismus spiele eine Rolle in seiner Arbeit, bestätigt Eike Leidgens. »Islamisten sind aber nur eine weitere Konfliktpartei, vor der meine Patienten fliehen.« So sei ein nigerianischer Klient von der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram entführt worden. Dann befreite ihn das nigerianische Militär. »Sie hielten ihn aber für einen Terroristen und zertrümmerten ihm die Gliedmaßen. Als Boko Haram das Gebiet zurückeroberte, konnte er fliehen und kam schließlich in meine Sprechstunde.«
Warum es der medizinischen Flüchtlingshilfe bedarf, liegt für Leidgens auf der Hand. »Hier erhalten Bedürftige schnelle und unbürokratische Hilfe, wir bieten Therapie in Muttersprache durch professionelle Übersetzungen, wir verfügen über interkulturelle Kompetenz und sind auf Trauma-Behandlungen spezialisiert. Wir beraten, therapieren, begutachten, vermitteln externe Therapeuten. Wir beraten auch Ehrenamtler und Lehrer von Integrationsklassen und andere Fachkräfte.«
Dass die Arbeit auch ihn belastet, ist mit Händen zu greifen. Supervisionen, also eine professionelle Beratung der Berater, sollen Leidgens und seinen Kollegen helfen. »Mich stärkt zudem der Rückhalt im Team, ich mag gutes Essen, auch Sport hilft.« Aber manche Geschichte nehme er schon mit nach Hause. »Und die selbst ernannten Asylrechtsexperten legen ja bevorzugt am Wochenende los, wenn ich mich eigentlich erholen sollte.«
Leidgens blickt noch ein bisschen ernster. »Bisher musste ich erfreulicherweise keinen vollendeten Suizid verzeichnen. Doch allein im letzten Jahr haben fünf unserer Patienten ernsthafte Suizidversuche unternommen.«
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