Die Lebenswelten der Zeichner

Mawils Sonntagscomics und Hamed Eshrats Berlin-Comicroman teilen einen Ansatz

  • Ralf Hutter
  • Lesedauer: 4 Min.

Du bist nicht Deutschland. Du bist auch nicht Berlin, egal wie lange der Senat uns noch mit der Kampagne »Be Berlin« nerven wird. Falls du überhaupt etwas anderes bist als du selbst, bist du vielleicht Mawil.

Mawil gehört zu Deutschlands prominentesten Comic-Autoren. Der 1976 als Markus Witzel in Ost-Berlin geborene studierte Grafikdesigner erhielt 2014 einen der begehrten Preise der zweijährlichen größten Branchenmesse im deutschsprachigen Raum, dem Comic-Salon in Erlangen. Sein Buch »Kinderland«, in dem er seine Kindheit verarbeitet, wurde als bestes deutsches Werk ausgezeichnet. Mawil erhielt viel Lob dafür, wie er den Alltag der DDR darstellte. Es gelinge ihm, »die späte DDR als liebenswerten Lebensort wachzurufen, dessen Eigenheiten dort heranreifende Persönlichkeiten prägten«, und die Deutungshoheit darüber gegen Verklärung und Verteufelung zu behaupten, hieß es etwa im »nd«.

Dass Mawil allgemein ein guter Chronist des Alltags ist, zeigen seine großformatigen monatlichen Beiträge für die Sonntagsbeilage des »Tagesspiegel«. Die Sammlung dieser seit 2006 erscheinenden Comics liegt nun als Buch vor. Der Band »The Singles Collection« hat, seinem Titel entsprechend, die Ausmaße einer Schallplattenhülle, nur dass er rund 140 Seiten dick ist.

Mawil lässt uns in diesen Geschichtchen immer wieder an seinem Alltag teilhaben - Reisen, Marotten und Probleme eingeschlossen. Dabei ist ihm offensichtlich nichts zu blöd und kaum etwas zu intim. Er zelebriert seine Tiefstapelei und Missgeschicke geradezu - gleich zwei Comics tragen den Titel »Wo hast du nur deinen Kopf?«, anscheinend ein häufiger Ausspruch seiner Mutter. Tipps gegen die Winterdepression, eine kleine Rückenschule, eine Gepäck-Checkliste für Fahrradtouren - selbst profanste Dinge werden in Comics gegossen. Mawil hatte nicht mal Skrupel, dieses Format dafür zu nutzen, sein gestohlenes Fahrrad ausführlichst zu beschreiben oder nach seinem Brillengestell zu suchen, als es aus dem Handel genommen wurde (letzteres war übrigens erfolgreich). Auch was ihn in Berlin aufregt, bringt er gelegentlich und mit zum Teil drastischem Vokabular zum Ausdruck.

Wer aus halbwegs behüteten Verhältnissen kommt und nicht ein Leben voller existenzieller Ängste oder Exzesse lebt, wird sich leicht mit Mawil identifizieren können. Mag es an seinem (meist selbstironischen) Witz, seinem unprätentiösen Stil, oder schlicht am Voyeurismus liegen - der ungekämmte, unrasierte junge Mann mit dem rosa und lila gestreiften Pullover, der kaum etwas kann außer zeichnen und anscheinend lange eher schlecht als recht mit Frauen zurecht kam, ist ein Sympathieträger. Und er ist ein Künstler. Mawils Alltagsgeschichten wären wesentlich weniger lobende Worte wert, wenn er an ihnen nicht zeigen würde, wie aus Zeitungscomics Kunst werden kann. Oft passt er Zeichenstil und Inszenierung dem jeweiligen Thema an. So sind die Panels mancher Geschichten Notizzettel oder -bücher, ein Adventskalender oder Zugfenster, andere sind im Rund einer Schallplatte oder in einer Flughafenwarteschlange angeordnet. Zudem kommt oft Mawils Alter Ego vor, ein bebrillter Hase in einer von anderen vermenschlichten Tieren bewohnten Welt.

Ebenfalls ein vielfältiger Künstler ist Hamed Eshrat. Von dem Berliner Zeichner und Illustrator ist sogar der kalligrafische Mawil-Schriftzug auf der Titelseite von »The Singles Collection«. Dieser Tage ist Eshrats Deutschland-Debüt »Venustransit« erschienen. Auch hier geht es um die Lebenswelt des Autors, wenn auch indirekter.

Eshrats Hauptfigur ist ein Berliner Zeichner Anfang 30, der nicht weiß, wohin mit sich. Von der Frau verlassen und unzufrieden mit dem Job, macht dieser Ben eine lange Indien-Reise, nach der er eine neue Frau kennenlernt - so weit, so unoriginell. Leider ist die Geschichte an einigen Stellen ebenso erzwungen wie die meisten Nebenfiguren und einiges vom Berliner Lokalkolorit. Die Parallele zu Sisyphos, den Ben ständig zu Hause zeichnet, scheint fehl am Platz, denn die Hauptfigur scheitert nicht ständig mit etwas, sondern hängt einfach lebensplanerisch in der Luft. Die Bedeutung des Buchtitels bleibt unklar. Die Bleistiftzeichnungen sind ansehnlich, machen die Lektüre aber insgesamt nicht mehr als erträglich. Am interessantesten sind die experimentellen Seiten, vor allem die großen, zum Teil labyrinthartigen Wimmelbilder mit seltsamen Fantasieobjekten. Aber dass sie ein Viertel des Buches einnehmen, ist übertrieben.

Eshrats wenig überzeugender Versuch, in seine Lebenswelt einzuführen, zeigt noch mal anders Mawils Meisterschaft bei eben diesem Ansatz. Der hatte nämlich schon vor »Kinderland« mit autobiografischen Jugendgeschichten auf sich aufmerksam gemacht.

Mawil: The Singles Collection. Reprodukt, 136 S., farbig, geb., 29 €. Hamed Eshrat: Venustransit. Avant-Verlag, 256 S., sw, br., 24,95 €. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Best of Comic, Illustration und Characterdesign aus 20 Jahren Galerie Neurotitan« präsentiert Hamed Eshrat am Donnerstag um 19 Uhr »Venustransit«. Am Sonntag um 15 Uhr gibt es einen »Adventskaffee« mit Mawil, bei dem er auch signiert. Neurotitan im Haus Schwarzenberg, Rosenthaler Str. 39, Mitte.

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