Die Leichtigkeit des Flirts

James’ »Daisy Miller«

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein Flirt, begonnen in Vevey am Genfer See, fortgesetzt und tragisch beendet in Rom: Henry James erzählt ihn in seiner 1878 erschienenen, jetzt von Britta Mümmler neu übersetzten Novelle »Daisy« mit dem eleganten Hauch, mit der Leichtigkeit, die dem Flirt angemessen ist. Frederick Winterbourne, ein junger, in Genf lebender Amerikaner, begegnet zufällig der auf der »grand tour« durch Europa reisenden Daisy Miller. Die von ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder begleitete Fabrikantentochter aus Amerika soll die Alte Welt kennenlernen, schert sich aber nicht um die hiesigen Konventionen. Sie achtet in der vom Calvinismus geprägten Gesellschaft genauso wenig auf ihren guten Ruf wie später im vom Katholizismus nicht weniger eingeengten Rom. Ungezwungen flirtet sie mit allen, auch den weniger respektablen jungen Männern und achtet dabei nicht auf die moralische Wirkung, die sie damit bei ihrer Umgebung erzielt. Für sich selbst hat sie ihre moralische Grenze in der ihr eigenen Würde längst gezogen.

Winterbourne verliebt sich in die Schönheit Daisy, deren natürliche Heiterkeit, Naivität und Leichtigkeit alle Männer faszinieren. Er reist ihr nach Rom nach, wo sie bereits begonnen hat, ihren Ruf zu ruinieren, weil sie sich als alleinstehende junge Frau in der Öffentlichkeit mit römischen Männern zeigt, gut aussehenden Männern zweifelhafter Qualität. Daisy wird von der guten amerikanischen Gesellschaft in Rom deshalb geschnitten - sie hält das allerdings für deren Problem! Der verliebte Freund aus Genf erkennt zunehmend, dass sie keine angemessene Liaison für ihn darstellt, warnt sie vor ihren Auftritten in der Öffentlichkeit und auch vor dem »Römischen Fieber«. Darunter versteht der Autor sowohl die reizende römische Welt des Flirts als auch die damals in Rom noch aus den Sümpfen der Umgebung grassierende Malaria, an der Daisy nach einem nächtlichen Ausflug mit ihrem »kleinen Römer«, ins Kolosseum erkrankt und stirbt. Der Rivale Winterbournes hatte auf dessen Vorhaltungen nur die Antwort: »Um mich habe ich mir keine Sorgen gemacht und Daisy macht ohnehin was sie will!«

Henry James ist in den Vereinigten Staaten geboren und schon als junger Mann zum Europäer geworden. Die Mentalitätsunterschiede zwischen der Alten und der Neuen Welt, das Gefälle der Konventionen zwischen Amerika und Europa haben ihn in seinem ganzen Werk beschäftigt. In »Daisy« thematisiert er diese andere Lebenshaltung - eigentlich unter Verzicht auf viel Handlung - in den Dialogen und aus der Perspektive Winterbournes. Das ist wundervoll leicht geschrieben und dennoch ein Flirt mit Tiefgang - typisch Henry James und schön übersetzt von Britta Mümmler.

Henry James: Daisy Miller. Eine Erzählung. Aus dem Englischen neu übersetzt und mit Anmerkungen von Britta Mümmler. dtv, 126 S., br., 14,90 €.

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