Einwandererkinder können in der Pubertät nicht rebellieren

Regisseurin Baya Kasmy über die Forderung nach mehr Selbstkritik von Einwanderern und ihren neuen Film »Mademoiselle Hanna und die Kunst nein zu sagen«

  • Katharina Dockhorn
  • Lesedauer: 3 Min.
Baya Kasmy, geboren 1978 in Toulouse, beschreibt in »Mademoiselle Hanna und die Kunst nein zu sagen«, im Original »Je suis à vous tout de suite « mit liebevollem Blick den Emanzipationsprozess einer jungen Französin, deren Vater aus Algerien stammt. Sie ist Personalmanagerin, während ihr Bruder, Auspacker eines Supermarkts, den Islam entdeckt.

Gefällt ihnen der deutsche Titel?
Sogar sehr. Frauen fällt es nicht schwer, nein zu sagen. Sondern zu formulieren, was sie wollen. Das drückt sich gut im Verhältnis zu ihrem Körper aus. Der alte Slogan »Mein Körper gehört mir« hat für die Prostituierte, für Hanna und die verschleierte Frau jeweils eine andere Bedeutung.

Wieviel ist in der Geschichte autobiogarfisch?
Ich bin in einer Vorstadt aufgewachsen und litt unter dem Beschützerinstinkt meines Bruders. Später heiratete er eine Algerierin und siedelte über. Für mich war sein Weggang eine Niederlage. Zufällig las ich damals Philip Roths »Gegenleben«. Er porträtiert zwei jüdische Brüder in den USA. Der eine ist Atheist, der andere ultrareligiös. Was er über Juden erzählte, wollte ich über Araber in Frankreich erzählen

Und kommen mitten in eine aktuelle Diskussion?
Als der Film im September in die französischen Kinos kam, löste er wie jedes Kunstwerk um Muslime und den Islam eine politische Debatte aus. Ich hoffe, dass er aus der Schiene rauskommt. Denn es geht mir um andere Fragen. Die Generation der Einwanderer muss lernen, Selbstkritik zu üben. Ihren Puritanismus zum Beispiel benennen. Die französische Gesellschaft muss sich ihren Versäumnissen stellen. Sie ist mit der kolonialen Vergangenheit nicht im Reinen. Dazu kommt die soziale Ungleichheit. Ich habe ein Lycee in einer Vorstadt besucht. Mit dem Abschluss haben wir an den großen Hochschulen keine Chance.

Sind Mädchen anpassungsfähiger?
Mädchen haben in der französischen Gesellschaft mehr zu gewinnen. Auf den Brüdern lasten die Folgen des Drucks, die Ehre der Schwester bewachen zu müssen. Sie haben später Probleme, ihre Männlichkeit zu beweisen. Das stürzt sie in Identitätskrisen. Die Antwort finden viele in der Religion. Sie werden aber nicht automatisch zu Dschihadisten. Diese Schattenseite wird in Frankreich im Moment zu stark betont, was die diffuse Angst vor muslimischen Männern verstärkt. Und mich schockierte die Absicht Hollandes, arabischstämmigen Terroristen die französische Staatsbürgerschaft abzuerkennen. Sie sind Franzosen und haben ein Problem mit Frankreich.

Dann ist der Dschihadismus eine Art Rebellion gegen die Eltern?
Die Kinder der Einwanderer haben die Schwäche ihrer Eltern miterlebt. Für Jungen ist es schwer, damit umzugehen. Ihre Gefühle münden in Aggression, die sich nicht gegen die Eltern wenden kann. Doch die Teenager können sich nicht gegen die Väter auflehnen. Und sie können nicht den radikalen Weg einschlagen, den die Franzosen der 68er-Generation gehen konnten.

Steht die Mutter, die jahrelang den Missbrauch ihrer Tochter nicht bemerkte, auch für die französische Gesellschaft, die zu lange die Augen vor Fehlentwicklungen verschlossen hat?
Natürlich. Die Mutter hat sich in ihrer idealistischen Weltsicht eingenistet und ist blind für die Realität. Mit dieser Haltung verursachte sie die Neurosen der Tochter, die es allen recht machen will.

Am Ende verzeihen sich Mutter und Tochter. Ist dies die Voraussetzung für eine Versöhnung der Gesellschaft?
Ich bin optimistisch, dass dies gelingt. Das große Problem ist, die Verletzungen auszusprechen. Wenn die Mutter sagt, sie bedauere, dass sie blind war, geht es nicht darum, was sie sagt. Sondern dass sie etwas sagt.

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