In Berlin ist man 
unbelehrbar

Griechischer Überlebender von NS-Massaker fordert automatische Entschädigungen nach Kriegsverbrechen und Angriffskriegen

  • Lesedauer: 6 Min.
Der Überlebende Argyris Sfountouris über Verbrechen der 
Nazis in Griechenland, die absurde Haltung der Bundesregierung gegenüber den Opfern und Wege zur Gerechtigkeit

»Trauer um Deutschland« heißt Ihr gerade erschienenes Buch, in dem Sie über die Auseinandersetzung Deutschlands mit den Verbrechen der Wehrmacht schreiben. Warum trauern Sie um Deutschland?
Die Idee ist schon in den späten 1960er Jahren entstanden, als ich das Buch »Die Unfähigkeit zu trauern« von Alexander und Margarete Mitscherlich gelesen habe. Damals habe ich begriffen, warum es so schwierig ist, mit den Deutschen überhaupt über die Ereignisse zu sprechen und von Deutschland aus den richtigen Zugang zu den Opfern zu finden. Als ich dann vor 20 Jahren öfter nach Deutschland reiste, um Vorträge zu halten, schlüpfte ich in eine neue Rolle: Ich übernahm die Trauer für unsere Toten und die Ereignisse in Griechenland auf der einen Seite und trug zusätzlich all das mit, was in Deutschland vernachlässigt worden war. Sonst wäre gar kein Kontakt möglich gewesen.

Definieren Sie so das »gemeinsame Schicksal« von Tätern und Opfern?
Nicht unbedingt von Tätern und Opfern, sondern von Mitopfern. In Deutschland gab es ja auch Opfer im Krieg. Und das deutsche Volk als Ganzes war auch ein Opfer der Diktatur, obwohl sie zunächst sehr viele unterstützt hatten. Am Ende hatten aber wohl fast alle gemerkt, dass auch sie Opfer geworden sind. Im Fall von Griechenland waren alle von vornherein in dieser Rolle. Griechenland wurde besetzt und total ruiniert. Jeder Widerstand wurde mit der größtmöglichen Brutalität unterdrückt. Das traf ja nicht nur diejenigen, die Widerstand geleistet haben, sondern auch Unbeteiligte. Unschuldige Menschen wurden massakriert, um den Widerstand zu brechen.

Argyris Sfountouris

Argyris Sfountouris ist einer der wenigen Überlebenden des Massakers von Wehrmacht und SS in Distomo in Griechenland am 10. Juni 1944. Mit seinem Buch »Trauer um Deutschland« setzt der heute 75-Jährige dem selbstgefälligen deutschen Diskurs um das Erinnern an die Nazi-Verbrechen etwas entgegen. Das Buch enthält eine Sammlung seiner Reden und Aufsätze aus den Jahren 1994 bis 2015, geschrieben für Kongresse, Manifestationen, Gedenkveranstaltungen. Mit Sfountouris sprach Harald Neuber.

In Ihrem neuen Buch finden sich auch historische Dokumente. Bringen sie neue Erkenntnisse?
Sehr neu sind die Erkenntnisse nicht, aber es sind Fakten, die das offizielle Deutschland nach wie vor nicht anerkennt. Dazu gehört das, was ich schon vor 20 Jahren als Distomo-Lüge bezeichnet habe: das Argument der deutschen Bundesregierung und des Auswärtigen Amtes, nach dem es sich bei den Massakern der Wehrmacht in Griechenland nicht um Kriegsverbrechen und NS-Unrecht gehandelt habe, sondern um Maßnahmen im Rahmen der Kriegsführung. Diese These war 1944 durch die falsche Berichterstattung der Täter entstanden. Doch diese Darstellungen wurden durch Berichte des deutschen Oberkommandos Südost in Thessaloniki selbst entlarvt, weil auch ein Mitglied der Geheimen Feldpolizei dabei war und einen wahrheitsgetreuen Bericht geschrieben hat. Er hat die Darstellung der Verantwortlichen der Massaker als wissentlich falsche Berichterstattung zurückgewiesen. Aber auf diese Falschdarstellung beharrt die Bundesregierung noch heute. Sie hat nie eine andere Position eingenommen oder sich gar entschuldigt.

1995 hieß es noch: »Nach Auffassung der Bundesregierung sind Vergeltungsaktionen wie gegen das Dorf Distomo nicht als NS-Tat zu definieren (…), sondern als Maßnahme im Rahmen der Kriegsführung, denn sie stellten Reaktionen auf Partisanenangriffe dar.«
Und das ist das Absurde. Denn mit diesem Satz sagt die Bundesregierung im Grunde, dass der Krieg keine NS-Tat war. Dabei ist ja der ganze Krieg und alles, was folgte, nur aufgrund der nationalsozialistischen Regierung in Deutschland geschehen. Die Differenzierung der Bundesregierung kann ich logisch also gar nicht nachvollziehen. Die Politik der NSDAP hat schließlich eine wesentliche Rolle bei der Art der Kriegsführung gespielt.

Wie sieht es um die aktuelle Griechische Regierung aus? Im vergangenen Jahr wurde aus Athen vielfach die Forderung von Entschädigungszahlungen erhoben, auch die Summe der Schäden sollte neu berechnet werden. Zuletzt hat man davon nichts mehr gehört.
Nein, das glaube ich nicht. Das Thema ist in den Hintergrund getreten, weil die griechische Regierung innerhalb der EU sehr in die Defensive geraten ist. Auch von Deutschland ist ja mehr oder weniger offen versucht worden, diese Regierung zu stürzen, weil sie zu links war oder schlichtweg nicht ins Konzept passte. Das hatte ja auch eine vernünftigere wirtschaftliche Lösung verhindert, die selbst vom Internationalen Währungsfonds gefordert worden war. Aber in der Frage der Aufarbeitung der Verbrechen der Wehrmacht ist vom Parlament eine wichtige Arbeit geleistet worden, gegebenenfalls auch für die juristische Aufarbeitung. Ich persönlich denke übrigens, dass man angesichts der Blockadehaltung Deutschlands die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs wieder einschalten müsste.

Ist Ihr Buch auch ein Versuch, die Debatte voranzubringen, weil juristisch nicht mehr viel Handlungsspielraum besteht?
Juristisch besteht tatsächlich nur noch sehr wenig Spielraum, wobei es auf höchster Ebene schon noch Möglichkeiten gibt. Und wenn es nicht zu politischen Verhandlungen kommt, wird die Sache ganz sicher juristisch geklärt werden müssen. Es gibt, wie ich kürzlich erfahren habe, ja sogar noch einen Schiedsgerichtshof in Koblenz, der für das Londoner Schuldenabkommen von 1953 zuständig ist. Dieses Gericht ist derzeit zwar nicht besetzt, aber es ist nicht aufgelöst. Es kann wohl jederzeit durch die westlichen Großmächte wieder mit Richtern ausgestattet werden, um dann darüber zu prozessieren, ob die Verträge von 1953 durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag richtig umgesetzt wurden. Das Wichtigste damals war die Stundung der Entschädigungsforderungen. Und man kann ja nicht sagen, dass diese Forderungen bis zu dem Moment gestundet werden, zu dem sie verfallen. Diese deutsche Haltung ist ein Theater des Absurden. Da wird Recht mit Füßen getreten.

Es gibt ja seit Jahren Versuche, die Verbrechen der Wehrmacht in Griechenland zu thematisieren. Im Jahr 1994 fand in Delphi eine Friedenskonferenz statt. Damals hat die deutsche Bundesregierung noch nicht einmal auf die Einladung reagiert. Was hat sich seither verändert?
Was die Haltung der Bundesregierung betrifft, überhaupt nichts. In Berlin ist man unbelehrbar und man hält es nicht für nötig, etwas zu ändern, weil man mit der praktizierten Machtpolitik scheinbar alles durchsetzen kann. Leider auch innerhalb Europas. Das ist auch unabhängig von der Entschädigungsfrage ein Problem Griechenlands. Die Regierung in Athen muss es schaffen, diese beiden Dinge auseinanderzuhalten: die aktuelle wirtschaftliche Krise, die teilweise durch unsere Politiker mitverschuldet ist, und die Kriegsreparationen, die in den 1990er Jahren im Rahmen des Zwei-plus-Vier-Vertrags hätten geklärt werden müssen.

Anfang März vergangenen Jahres hat Bundespräsident Joachim Gauck im Bergdorf Ligiades die Opfer der deutschen Verbrechen um Verzeihung gebeten. War das wichtig für Sie?
Ich habe Herrn Gauck am Vorabend seines Besuchs in Ligiades bei einem Empfang beim griechischen Staatspräsidenten getroffen. Er schien sehr interessiert daran, etwas über diese Ereignisse zu erfahren. Mich hat aber vor allem beeindruckt, wie er als erster und einziger deutscher Politiker gesagt hat, dass die deutschen Soldaten auf Befehl von fanatischen Bürokraten in Berlin hin Mord, Raub und Terror nach Griechenland gebracht haben. Das war Klartext und das hatte nichts mehr mit den angeblichen Maßnahmen im Rahmen der Kriegsführung zu tun.

Denken Sie denn, dass die Debatte um die Vergangenheit deutscher Kriegsverbrechen auch Auswirkungen auf die Gegenwart haben kann? Es gab zuletzt ja auch eine Debatte über mutmaßliche deutsche Kriegsverbrechen in Afghanistan, wo ein deutscher Offizier im September 2009 Zivilisten bombardieren ließ.
Wenn man die deutschen Kriegsverbrechen nicht zu Ende diskutiert und vor allem das schuldige Land nicht Farbe bekennt und Entschädigungen zahlt, dann hat es bei entsprechenden Anklagen gegen andere Länder keine Glaubwürdigkeit mehr. Im Grunde müssten über die UNO alle Kriegsverbrechen geahndet und Entschädigungszahlen geregelt werden. Dafür setze ich mich ein, auch wenn ich nicht erwarte, ein Ergebnis dieses Strebens zu erleben. Es muss dazu kommen, dass Angriffskriegen und Kriegsverbrechen automatisch Entschädigungen folgen. Dann würden sich Kriege nicht mehr lohnen. Denn der Grund für Kriege war in der Menschheitsgeschichte immer Profitstreben.

Argyris Sfountouris. Trauer um Deutschland. Reden und Aufsätze eines Überlebenden. Königshausen & Neumann, Würzburg 2015. 172 S., 24,80 Euro.

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