Wahlkampf mit Herz

Andreas Koristka ist nach langem Überlegen hinter das Geheimnis zweier Plakate der Berliner SPD gekommen

In Berlin ist endlich wieder Wahlkampf. Es ist zwar noch nicht ganz klar, ob die Verwaltung die Wahl wird pünktlich stattfinden lassen können. Aber bei so einer Abstimmung geht es ja weniger um das Ergebnis als vielmehr um den Spirit, Teil einer echten Demokratie zu sein. Gerade wenn man derzeit auf andere Regionen der Welt blickt, sollte man darüber ganz besonders dankbar sein. In der Türkei jedenfalls dürfte sich derzeit keine Partei erlauben, mit einem riesigen Wahlplakat zu werben, auf dem nichts weiter zu sehen ist als ein Wasserbüffel und der Slogan »Wohlfühlen in Reinickendorf - CDU«.

Sicherlich, das klingt für den Außenstehenden zunächst vielleicht etwas befremdlich. Aber det is nu ma Barlin, wa, unsa schönet Spreeathen! Hier gilt der Wasserbüffel als heilig und die CDU huldigt ihm. Es ist nie anders gewesen. Zugereisten ist das in aller Regel schwer zu vermitteln, ebenso wie der Fakt, dass es nun mal »Schrippe« heißt und nicht »Weckle« oder »Acma«.

Dass in der Hauptstadt die Apple-Watches anders ticken als im Rest der Republik, dürfte auch klar werden, wenn man sich das Plakat des derzeit Regierenden SPD-Bürgermeisters Michael Müller zu Gemüte führt. Man sieht ihn auf einer Rolltreppe stehend. Sein Gesicht ist verschwommen. Scheinbar möchte er nicht erkannt werden, weil er sich kein Auto leistet und stattdessen Rolltreppe fahren muss. Im Zentrum des Bildes befindet sich der Rücken einer Kopftuchträgerin, die Müller entgegen fährt. Darunter steht »BerlinBleibtWeltoffen«.

Wo genau das Bild aufgenommen wurde, ist nicht ersichtlich. Am U-Bahnhof Gesundbrunnen kann es nicht entstanden sein. Dort ist die Rolltreppe eigentlich immer defekt. Viel wichtiger aber ist, was uns das Plakat erzählen möchte: Michael Müller ist offenbar ein richtig lockerer und toleranter Typ, der sich nicht einmal etwas anmerken lässt, wenn eine Muslima auf der Rolltreppe auf ihn zusteuert. Das hätte man ihm gar nicht zugetraut! Aber bei sowas fällt dem Müller wirklich kein Zacken aus der Krone! Solange die junge Frau kein Schaf schächtet oder verbotener Weise mit einem Kamel die Rolltreppe betritt, lässt er sie unbehelligt passieren. Kein Bespucken, kein Begrapschen, obwohl er Bürgermeister ist mit allem Pipapo und seine Anwälte ihn schon rausboxen würden.

Dennoch bleibt ein Hauch von Zweifel: Wird Müller auch dann die Contenance wahren, wenn er sich auf gleicher Höhe mit der Frau befindet und sie frech guckt? Wird er ihr vielleicht doch auf die Nase schlagen und dabei schreien: »Nimm das für Erdogan, du Türken-Schlampe!«? Den Ausgang der Geschichte lässt das Plakat geschickt offen, denn es soll alle Bevölkerungsschichten ansprechen. Und die Fantasie anregen, das soll es eben auch. Denn vielleicht handelt es sich bei der Frau überhaupt nicht um eine Muslimin, sondern um ein liebes Mütterchen mit Kopftuch, das auf dem Weg zum Wochenmarkt ist, um Kartoffeln und Kohl zu besorgen, um der NPD-Bezirksgruppe ein leckeres Essen zuzubereiten. Oder es ist der ehemaligen BER-Chef Hartmut Mehdorn, der inkognito durch die Stadt bummelt. Oder, oder, oder …

Fest steht: BerlinBleibtWeltoffen. Da beißt die Maus eben keinen Faden ab. Und der Müller, der beißt erst recht nicht. Denn auf einem zweiten Plakat wird Licht in die mysteriöse Geschichte gebracht. Zu sehen ist dieses Mal ein sichtlich zufriedener Bürgermeister neben einer Frau, die ein Kleinkind trägt. Offensichtlich handelt es sich um die gleiche Dame wie auf dem ersten Bild. Sonst würde die Sache ja keinen Sinn ergeben. Michael Müller hat die Frau von der Rolltreppe aus den Fängen ihrer muslimischen Großfamilie befreit, geschwängert und ihre Brüder von den Hells Angels erschießen lassen. Ein Kopftuch braucht sie nun nicht mehr zu tragen. Wer jetzt immer noch nicht die SPD wählen will, hat kein Herz für gute Liebesgeschichten.

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