Türkischen Soldaten droht nach Putschversuch lange Haft

62 Militärs vor Gericht / UNO untersucht Foltervorwürfe in der Türkei / Kurzzeitig inhaftierte WDR-Redakteurin will weiter von vor Ort berichten

  • Lesedauer: 3 Min.

Istanbul. Nach dem Putschversuch in der Türkei sollen erstmals zahlreiche Armeeangehörige vor Gericht gestellt werden. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft fordere für 62 Soldaten, darunter 28 Offiziere oder Unteroffiziere, mehrmals lebenslange Haft, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Montag. Ihnen werde unter anderem Umsturzversuch der türkischen Republik vorgeworfen.

Einige würden auch der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation beschuldigt. Manche Soldaten sollen in der Putschnacht vom 15. Juli den Istanbuler Flughafen Sabiha Gökcen besetzt haben. Das Gericht muss die Anklageschrift noch annehmen.

Ein Gericht in der westtürkischen Stadt Mugla nahm unterdessen die Anklageschrift gegen 50 Soldaten an, die in der Putschnacht das Hotel von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan angegriffen haben sollen, wie ebenfalls Anadolu berichtete. Wie hoch das von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafmaß ist, erwähnte die Agentur nicht.

Seit dem gescheiterten Militärputsch am 15. Juli geht die türkische Regierung mit aller Härte gegen ihre vermeintlichen Gegner vor. Das betrifft nicht nur mutmaßliche Anhänger des im Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen, den Ankara für den Putschversuch verantwortlich macht, sondern auch mutmaßliche Anhänger der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sowie regierungskritische Journalisten.

Zehntausende Menschen insbesondere aus dem Bildungswesen, den Medien, den Streitkräften und der Justiz wurden seit Juli festgenommen, zehntausende weitere aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert. Nach Angaben von Journalistenvereinigungen wurden in den vergangenen Monaten zudem mehr als 150 Zeitungen, Radio- und Fernsehsender geschlossen. Der türkischen Regierung wird vorgeworfen, dabei ohne Rücksicht auf rechtstaatliche Grundsätze vorzugehen.

Foltervorwürfe werden untersucht

Nils Melzer, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen (UN) zu Folter, befindet sich daher seit Montag in der Türkei und untersucht die Foltervorwürfe nach dem Putschversuch im Juli. Der Schweizer werde bis Freitag mit mutmaßlichen Folteropfern sprechen und Haftanstalten besuchen, teilten die UN in Ankara mit. Melzers Untersuchungen in Polizeiwachen, Haftanstalten und Untersuchungsgefängnissen sollen demnach in einen Bericht für den UN-Menschenrechtsrat einfließen, der im März 2018 vorliegen soll.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hatte der türkischen Polizei im Oktober vorgeworfen, seit der Verhängung des Ausnahmezustands nach dem Putschversuch systematisch Gefangene zu foltern. Ehemalige Häftlinge hatten demnach über Stresspositionen, Schlafentzug, Schläge und sexuellen Missbrauch in der Haft berichtet. Die türkische Regierung wies die Vorwürfe vehement zurück.

Die UN kündigten nun an, dass der Sonderberichterstatter bei seinem Besuch die »Entwicklungen und Herausforderungen im Zusammenhang mit Folter und Misshandlung« in der Türkei »feststellen und untersuchen« werde.

WDR-Redakteurin will nach Festnahme in der Türkei bleiben

Die in der Türkei nach ihrer Festnahme wieder freigelassene Journalistin Hatice Kamer will ihre Arbeit in dem Land fortsetzen. Kamer mache weiter, sagte die WDR-Redakteurin Ayca Tolun in einem Interview von WDR 5. Sie habe mit der Reporterin telefoniert. »Sie sagt, die Öffentlichkeit muss weiter erfahren, was in diesen Ausnahmezustand-Zeiten in der Südosttürkei passiert.«

Kamer war in der Provinz Siirt am Samstag festgenommen worden, wo sie für die BBC über ein Grubenunglück berichten wollte. Wenig später wurde sie wieder freigelassen. Allerdings habe man ihr mitgeteilt, dass sie sich einem Prozess stellen müsse, sagte sie dem WDR. Die Anklage werfe ihr vor, durch ihre Berichterstattung die Organisation PKK unterstützt zu haben. Dafür gebe es aber keinerlei Belege, sagte sie.

Kamer arbeitet für internationale Medien, darunter die BBC, Voice of America und den WDR. Agenturen/nd

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