Pinien und Zypressen

Esther Kinsky entschlüsselt die Zeichen der italienischen Landschaft

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 3 Min.

Dreimal reist Esther Kinsky in ihrem neuen Buch »Hain« nach Italien: im ersten Teil zwei Monate nach dem Tod ihres Mannes Martin Chalmers. Im zweiten Teil besucht sie in der Erinnerung jene Orte, an denen sie als Kind mit ihrer Familie war. Im dritten und letzten Teil fährt sie in die Po-Ebene.

Auf der ersten Reise, in Olevano Romano, steht sie noch unter dem Schock des Todes ihres Mannes. »Jeden Morgen wachte ich in einer Fremde auf. … Jeden Morgen war mir, als müsste ich alles neu lernen. Das Aufschrauben des Kaffeekochers, das Einfüllen des Kaffees.« Die Wohnung, in die sie in dem kleinen Ort in der Nähe von Rom einzieht, befindet sich auf einer Anhöhe. Von hier aus sieht sie den Friedhof, »eckig, weißlich betongrau, umrahmt von hohen schmalen schwarzen Bäumen. Zypressen … der nie vergehende Totenbaum, ein scharf gegen den Himmel gerichtetes Widerwort auf die ungestrengen Pinien.«

Die Landschaft ist für Esther Kinsky voller Zeichen, die es zu entschlüsseln gilt. Wobei das Verhältnis zwischen Lebenden und Toten, zwischen Pinien und Zypressen im Weiteren immer wieder auftaucht.

Im zweiten Teil des Buches, der den Kindheitsreisen mit der Familie nach Italien gewidmet ist, steht der Vater im Zentrum. Zunächst aber geht es um die Macht der Sprache. Wegen einer Augenentzündung wurden Kinsky als Kind die Augen verbunden. Der Vater, ein großer Bewunderer Italiens, las ihr während dieser Zeit auf Italienisch vor. Obwohl sie kein Wort verstand, begann sie der Klang der Sprache mit der Zeit zu beruhigen. Und als der Vater ihr das Wort »altipiano« als »Hochebene« übersetzte, wurden beide Wörter zu Geheimnisworten, denn auch »Hochebene« kannte sie nicht. Als in der Schule kurz darauf ein Film über die Po-Ebene vorgeführt wird, in dem ein Kind krank in der Kajüte eines Kahns liegt, identifizierte sie sich so sehr mit diesem Kind, dass sie noch lange danach mit dem Wort »altipiano« den Geruch der Turnhalle verband, in der in ihrer Schule die Filmvorführungen stattfanden.

Assoziationen und Erinnerungen, auch an Filme und Bücher, prägen die Erzählung von »Hain«. In »Comacchio«, dem letzten Teil des Buches, fährt Esther Kinsky in die Po-Ebene. Auf den Spuren der Etrusker war ihr Vater dorthin gereist und hatte deren Friedhöfe besucht. Auch hier, wie in Olevano, lebt die Ich-Erzählerin allein, streift durch das vom Po-Delta geprägte Umland. Und auch hier versucht sie, die Zeichen der Landschaft zu entschlüsseln. Vom Besitzer der Pension, in der sie abgestiegen ist, erfährt sie, dass sich die Gegend mit der Trockenlegung der Sümpfe um den großen Fluss sehr verändert hat. Am Ende dann, beim Besuch der Ausgrabungsstelle eines Etruskischen Friedhofs, schreibt sie von einem Gleichgewicht zwischen dem wilden Delta, den akkurat abgezirkelten landwirtschaftlichen Flächen, aber auch zwischen der etruskischen Nekropole und dem Ackerland, »eine Spannung, die ein altes Gleichgewicht aus dem Lot gebracht hat«.

»Hain« ist ein wunderbares Buch, das vor allem durch seine assoziative, melancholische Schreibweise fesselt. Im Untertitel spricht Esther Kinsky von einem »Geländeroman«, unter anderem wohl, weil die Orte, die sie bereist, wenig mit einer »romantischen« Landschaft zu tun haben, sondern eher mit einem banalen »Gelände«. Und doch ist »Hain« ein romantisches Buch in dem Sinne, dass Kinsky mit der Schilderung der Landschaft ihr Inneres beschreibt, Landschaft zum Reflexionsmedium wird, in dem sie der Frage nach dem Verhältnis von Lebenden und Toten nachgehen kann.

Esther Kinsky: Hain. Geländeroman. Suhrkamp, 288 S., geb., 24 €.

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