Glanz und Untergang des Jakub Shapiro

Szczepan Twardochs Roman »Der Boxer« führt nach Warschau im Jahr 1937

  • Sabine Neubert
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein phantastischer, spannend geschriebener und genial konstruierter Roman, ein historischer Thriller, brutal in vielen Szenen sexueller und tödlicher Gewalt und zugleich unmittelbar an den historischen Ereignissen des Jahres 1937 in Warschau orientiert.

Warschau - ein Hexenkessel. Der Roman ist mitreißend und abstoßend zugleich, und man wünschte, man könnte einiges rausstreichen. Aber natürlich wäre das ebenso unmöglich, wie Geschehenes aus der Geschichte zu tilgen und ungeschehen zu machen. Gewalt und Brutalität scheinen (ähnlich wie in Herman Melvilles »Moby Dick« - wir kommen darauf zurück) nicht nur von Menschen gemacht zu sein, sondern sie gleichen fremdgesteuerten Urgewalten. Die Handelnden sind janusköpfig geschildert, uneindeutig und schillernd in ihren Profilen.

Da ist vor allem der gutaussehende Jude Jakub Shapiro, der Protagonist des Romans. Er ist ein Bandit und Boxer, ein Jäger und ein Gejagter, gewalttätig und, wenn es sein muss, ein Rächer von Unrecht. Auf seiner rechten Hand hat er ein Tattoo, ein zweischneidiges Schwert und die hebräischen Buchstaben für »Tod«. Pantaleon, ein anderer Bandit der Untergrundgang, um die es geht, hat sich auf den Hinterkopf gleich sein ganzes Gesicht noch einmal tätowiert, was ihm ein schreckliches Aussehen verleiht, und der jämmerliche, kleine, siebzehnjährige Mojzesz Bernstein wird später zu Mojzesz Inbar.

Vorläufig ist er nur ein Schatten Shapiros, im Laufe der Romanhandlung verliert er gänzlich seine Identität. Das klingt kompliziert, hat aber eine gewisse Folgerichtigkeit, denn es geht ja um Geschichte im Ausnahmezustand.

»Jakub Shapiro war der stärkste Mann, den ich gekannt habe«, sagt Mojzesz Bernstein/Inbar später einmal. Das hat auch der Warschauer Unterweltboss Jan Kaplica, genannt »der Pate«, erkannt, und er hat Shapiro zu seinem Schützling und Handlanger gemacht. Kaplica ist »ein kleiner, fröhlicher und schrecklicher Goi«, reich, skrupellos, ein König der Unterwelt, der mit seinem nagelneuen, sündhaft teuren roten Chrysler Imperial durch die Stadt jagt und beim Boxkampf vorfährt, für Stimmung in Ryfkas Bordell und in teuren Lokalen sorgt und bei armen, meist jüdischen Schluckern gnadenlos Geld eintreibt oder eintreiben lässt. Wer weiß schon, wie viele Morde er auf dem Gewissen hat?

Wenn der Roman mit einem Boxkampf zwischen Jakub Shapiro als Vertreter der jüdischen Organisation Makkabi und Andrzej Ziembinski von der nationalistischen Legia Warszawa beginnt - ein Kampf, den Shapiro wie David gegen Goliath hochgradig gewinnt - dann stehen sich zwei konträre Welten gegenüber. Der Boxkampf ist somit ein Auftakt zu den folgenden Auseinandersetzungen und Aufmärschen unterschiedlicher politischer Lager, linker zionistischer Gruppierungen und rechter, militant antisemitischer Nationalisten und Falangisten.

Noch ist der »linke« Jan Kaplica der König von Warschau, noch hält er die Fäden in der Hand, dann aber wendet sich das Blatt. Die Nationalisten zetteln, unterstützt von einem schwachen Militär, einen Putsch an und schieben Kaplica einen Mord in die Schuhe.

Der wird in eine brutale Isolierhaftanstalt in Ostpolen gebracht. Auch um Jakub Shapiros Hals zieht sich die Schlinge zu. Als er sich in eine heiße Liebesaffäre mit der Tochter des Staatsanwaltes Ziembinski stürzt, bedeutet das das Ende seines Palästina-Traums.

Warschau 1937, das Vorkriegs-Warschau. Wir wissen, wie es weiterging. Wir wissen nicht, ob Shapiro am Leben blieb, ob Mojzesz Bernstein alias Inbar entkam? Einer der beiden hat jedenfalls in Tel Aviv im Jahre 1968 die Geschichte vom Glanz und Untergang Shapiros aufgeschrieben, dazu den Satz: »Alle sind gestorben, und ich entkam.«

Auch wenn in Warschau 1937 die Zukunft noch in den Sternen steht, es gibt im Roman ein deutliches Menetekel. Über die Stadt wälzt sich wie eine riesengroße Wolke der graue Pottwal Litani mit dem flammenden Auge, ein Leviathan, ein Drache (ein Drach). Und spätestens wenn man den erblickt, wird deutlich, warum Szczepan Twardoch dem Roman ein Zitat aus »Moby Dick« vorangestellt hat. Wie Melville, ja fast Shakespeare gleich, stellt Twardoch hier die Geschichte in den unauflösbaren Zusammenhang von Schicksal und schuldhafter Verflechtung.

Szczepan Twardoch: Der Boxer. Roman. Aus dem Polnischen und mit einem Nachwort von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin, 463 S., geb., 22,95 €.

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