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  • Berliner Theatertreffen 2018

Wir schreiben Gedichte im Kollektiv

Männerdämmerung: Wieder einmal ist die Geschlechtergerechtigkeit das große Thema beim Theatertreffen

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 5 Min.

Einmal geht das Sams zur Schule. In der Klasse des Studienrats Groll wird nur geschrien und geschimpft. »Du kannst von Glück reden, dass man die Schüler nicht mehr verhauen darf«, zürnt Herr Groll. »In diesem Raum«, sagt das Sams, »ist es mir zu laut.« Es sucht sich eine neue Klasse. Dort unterrichten die Schüler selbst, der Lehrer sitzt in der Bank. Das Thema: Wir schreiben Gedichte im Kollektiv.

Die derzeitigen Debatten an den deutschsprachigen Theatern erinnern an diese Szene aus dem 1973 erschienenen Kinderbuch »Eine Woche voller Samstage« von Paul Maar. Im Rahmenprogramm und in den Diskussionen des aktuellen Theatertreffens geht es um demokratische Entscheidungsfindung zwischen künstlerischer Leitung und Ensemble, um Frauenquoten auf den Regiestühlen, um eine angemessene Repräsentanz benachteiligter Gruppen auf den Spielplänen und darum, ob bestimmte Begriffe zu eliminieren sind, weil sie jemanden verletzen könnten.

Vor einem Jahr zensierten die Berliner Festspiele die zum Theatertreffen eingeladene Produktion »89/90« (Regie: Claudia Bauer) vom Schauspiel Leipzig. In der literarischen Vorlage von Peter Richter geht es um die junge Generation am Ende der DDR. Dabei kommt es zur Frontbildung zwischen Linken und Neonazis. Letztere reden so, wie Neonazis eben reden. Ein Satz, der in den Leipziger Vorstellungen enthalten war, gelangte in Berlin verändert zum Vortrag. Ein Fascho teilt einem anderen mit, er gehe jetzt mal »einen Neger abseilen« - ein Vulgärausdruck für das große Geschäft auf der Toilette. Andreas Dyszewski, der die Rolle spielte, musste im Haus der Berliner Festspiele sagen: »Ich geh mal einen N … BEEEP abseilen.« Verschwindet Rassismus, wenn im Alltag indiskutable Begriffe auch in der Kunst vermieden werden? Sagen Nazis »N ... BEEEP«?

Die zweite Frage ist insoweit wichtig, als eine weitere Tendenz auch bei diesem Theatertreffen durch fast jeden Pausenplausch schwirrt. Das Publikum - zumindest in den Großstädten - toleriert es kaum mehr, wenn eine schwarze Rolle mit einem nicht-schwarzen Schauspieler besetzt wird. Wer einen türkischen Gemüsehändler nicht wenigstens von einem türkischstämmigen Deutschen spielen lässt, der wird harte Kritik ernten. Interessanterweise verlangt niemand, dass der türkische Gemüsehändler auch von einem Gemüsehändler oder zumindest vom Sohn eines solchen gespielt wird. Bei ethnischen Zuschreibungen ist die Echtheit für die tonangebende Kulturkaste also ein moralisches Gebot, im Falle der sozialen Klassenlage dagegen ist die Mimesis nach wie vor erlaubt und erwünscht.

Dazu passt, dass es beispielsweise noch keine Debatte um eine Quote an Schauspiel- und Regiehochschulen für Menschen aus finanziell armen Haushalten gegeben hat oder aus solchen, in denen die bürgerliche Bildung keine herausragende Rolle spielt. Dafür aber drehen sich die Diskussionsrunden des Theatertreffens wieder einmal vorrangig um die fehlende Geschlechtergerechtigkeit.

Im Rahmen des Begleitprogramms »Unlearning« gab es am Wochenende ein Podium zum Thema: »Practice What You Preach!?« Da ließe sich natürlich fragen, wer bei einem fremdsprachigen Veranstaltungstitel von der Diskussion so alles ausgeschlossen bleibt, aber lassen wir das. Jedenfalls stellte sich als einziger Theaterpromi der Intendant der Berliner Schaubühne, Thomas Ostermeier.

Darauf angesprochen, warum in seinem Haus in der laufenden Spielzeit keine einzige Autorin aufgeführt wird, sagte er: »Wir haben auf die Stoffe geachtet, die wir spielen wollen und weniger auf das Geschlecht.« Das Internetportal »nachtkritik.de« bettete in seinen Bericht einen exemplarischen Beitrag des sozialen Netzwerks »Twitter« ein, in dem eine Nutzerin kommentiert: »Diese Ignoranz ist zum Kotzen.«

Nur bei 30 Prozent der Produktionen an deutschen Theatern führen Frauen die Regie, wobei sie noch seltener auf großen Bühnen inszenieren (22 Prozent), dafür vorwiegend im Kinder- und Jugendtheater. Ebenfalls nur 22 Prozent der Schauspielhäuser werden von Frauen geleitet. Gerade einmal 24 Prozent der aufgeführten Texte stammen aus weiblicher Hand, und auch in den meisten Ensembles herrscht ein Männerüberschuss.

Dies anzuprangern, gehört inzwischen zur Folklore des Theatertreffens. Auf Rampen, bei Sektempfängen und in Interviews schütteln Kulturpolitiker, Beamte und andere Herrscher über die Strukturen den Kopf ob dieses strukturellen Problems. Anschließend aber fahren alle nach Hause und lassen die Strukturen unangetastet - mit Unterstützung derer, die eine Quote für den einzigen Weg halten, um in einer liberalen Demokratie die Ungleichheit zu beenden.

Wenn Menschen sich nicht als Erwachsene ernst genommen fühlen, dann folgt oft eine reagierende Regression. In Ansätzen spürte das die Partei der Grünen: Zur Bekämpfung der Massentierhaltung wollte sie im Jahr 2013 öffentliche Kantinen zwingen, einen Tag pro Woche nur vegetarische oder vegane Gerichte anzubieten. Im Wahlkampf wurde dieser Bevormundungsversuch zum Fiasko.

Weil die Realität so trist ist, wärmen sich beim Theatertreffen nun alle am Bühnengeschehen, als handele es sich um ein Kaminfeuer. In »Beute Frauen Krieg« werden die griechischen Helden zu Kriegstreibern, die Deutung von Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« obliegt mit Nina Hoss einer Hauptdarstellerin, »Faust« ist ein Lustgreis, Elfriede Jelineks »Am Königsweg« poltert gegen alte weiße Kerle. Kein Nazi sagt »Neger«, kein Weißer spielt einen Schwarzen, Gut und Böse sind klar unterscheidbar, niemand tut den Opfern weh.

Der Philosoph Robert Pfaller erkennt darin eine gesellschaftliche Entwicklung, wie er vor einigen Monaten im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur sagte: »Auf der einen Seite haben sich die Verhältnisse brutalisiert, wenn jedes fünfte Kind unter der Armutsgrenze lebt in so einem reichen Land. Auf der anderen Seite sind genau diese Entwicklungen, die dann immer härtere Verhältnisse hervorgebracht haben, von einer Kultur begleitet worden, die ein immer zartfühlenderes Verständnis für irgendwelche Verletzlichen entwickelt hat.«

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