Eine zweite Judith wurde sie nicht

Als die Berliner Gerichtsreporterin Gabriele Tergit beinahe Hitler und Goebbels erschossen hätte

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Titel der autobiografischen Erinnerungen »Etwas Seltenes überhaupt« meint die Verfasserin selbst: Gabriele Tergit war eine Seltenheit. Die deutsch-britische Schriftstellerin und Journalistin, bekannt vor allem für ihre Gerichtsreportagen in den sogenannten Goldenen Zwanzigern in Berlin, aber auch durch ihren Roman »Käsebier erobert den Kurfürstendamm«, blieb eine Rarität. Und ihr damaliges Urteil über die deutschen Landsleute, unter denen es 99,9 Prozent Ja-Sager und nur 0,1 Prozent Nein-Sager gäbe, könnte durchaus auch noch auf heutige Zustände in der Bundesrepublik zutreffen.

Sie war die erste Gerichtsreporterin überhaupt, eine Intellektuelle mit Durchblick, die über eine spitze Feder verfügte und glänzende Texte hinterließ, die man noch gerne heute liest. Geboren 1894 als Elise Hirschmann in Berlin, absolvierte sie nach dem Besuch der Sozialen Frauenschule von Alice Salomon ihr Abitur, studierte Geschichte, Soziologie und Philosophie in Berlin, München, Heidelberg und Frankfurt am Main, wo sie auch über den Abgeordneten Carl Vogt in der Nationalversammlung von 1848/49 promovierte. Sie verschrieb sich jedoch nicht der Wissenschaft, sondern der Journalistik. Gabriele Tergit erntete erste Meriten mit ihren Reportagen aus dem Moabiter Kriminalgericht für den »Berliner Börsen-Courier«, die zu ihrer anfänglich eigenen Überraschung alle gedruckt wurden. Mit diesen »Gesellenstücken« bewarb sie sich dann erfolgreich bei Theodor Wolff vom »Berliner Tageblatt«.

Über das Vorstellungsgespräch beim einflussreichen Publizisten und Kritiker notierte sie: »Hilde Walter hatte mir vor der Unterredung den Rat gegeben: ›Verlange kein Gehalt. Wer bietet ist der Dumme.‹« Gemäß dem Rat der Berufskollegin, die gleich ihr die Soziale Frauenschule bei Alice Salomon besucht hatte, schwieg Gabriele Tergit, auch nachdem Wolff ihr 400 Reichsmark im Monat anbot. Worauf dieser mit 500 RM nachlegte. »Natürlich ging ich darauf ein.« So geschehen am 24. Dezember 1924. Es war die Zeit der Inflation, und dennoch war dies ein Haufen Geld für eine journalistische Anfängerin.

Gabriele Tergit wurde Mitarbeiterin der »Berliner Seite«, die Walter Kiaulehn leitete und an der auch Rudolf Olden mitarbeitete, der zugleich als Rechtsanwalt tätig war. 1931 erkämpfte er für Carl von Ossietzky im Weltbühne-Prozess, in dem es um Tucholskys Satz »Soldaten sind Mörder« ging, einen Freispruch.

In Gabriele Tergits Erinnerungen lebt das Berlin der 1920er Jahre wieder auf, mit allen Kuriositäten und Absurditäten, gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und großen menschlichen Tragödien - stets aus der Perspektive des Gerichtssaals. Lebendig schildert sie etwa das Verfahren gegen den Galeristen Paul Cassirer. Kaiser Wilhelm II. hatte 1901 den Vermittler der Kunst der französischen Impressionisten anlässlich der ersten Cézanne-Ausstellung beschimpft, weil er »die Dreckkunst aus Paris zu uns bringt«. Beim »Kunstprozess« ging es um gefälschte Van-Gogh-Gemälde. Gabriele Tergit gibt auch einen Eindruck vom Esprit, der im Salon von Cassirers Frau herrschte, der bekannten Schauspielerin Tilla Durieux.

Vor das Gericht wurden nicht nur Fälscher und Betrüger, sondern auch »Eierdiebe« zitiert. Und es ging auch um ernste politische Angelegenheiten. Tergit schrieb etwa über einen Fememordprozess in der »Schwarzen Reichswehr« und 1932 über ein Verfahren gegen Hitler und Goebbels, das sie noch lange beschäftigte. In den Erinnerungen liest man: »Ich habe vierzig Jahre über diesen Prozess nachgedacht, gedacht, was ich schon während des Prozesses dachte. Hitler und Goebbels saßen mir drei bis vier Meter gegenüber. Wenn ich einen Revolver besessen hätte und ich hätte sie erschossen, hätte ich fünfzig Millionen vor einem frühzeitigen Tod gerettet und ich wäre Judith II. geworden.«

Doch auch wenn sie nicht zu einer Wiedergängerin der biblischen Judith wurde, die Nebukadnezars Feldherren Holofernes tötete, klagte sie scharf eine Justiz an, die auf dem rechten Auge blind war und Judenmörder freisprach. Sie erinnert sich: »Theodor Knobel, der Führer eines Jungsturms, machte einen Ausflug und ließ die Jungen an einem Judenfriedhof haltmachen. ›Spuckt alle auf die Gräber dreimal aus!‹, befahl er. Er wurde wegen Religionsschändung angeklagt. Das Gericht sprach ihn frei. Religionsschändung liege nicht vor, denn Knobel habe nicht die religiöse Gemeinschaft der Juden, sondern die jüdische Rasse treffen wollen.«

Wer so schrieb, musste später mit Verfolgung rechnen. Gabriele Tergit floh nach Prag, Paris, Palästina und dann London, wo sie 1982 starb. Dort war sie jahrelang die Sekretärin des PEN der deutschen Exilautoren. Berlin hat sie hin und wieder besucht, doch die Stadt erinnerte sich der Exilierten nicht. »Hab den Namen nie gehört. Wer sind Sie überhaupt?«, zitiert in einem lesenswerten Nachwort die Herausgeberin dieser ersten vollständigen Ausgabe der Erinnerungen von Gabriele Tergit eine Berliner Kunstdezernentin Mitte der 1950er Jahre.

Und dennoch: Während der Berliner Festwochen 1977 erlebte die Gerichtsreporterin einen späten Triumph. Bei einem Abend an der Kunstakademie las Uwe Johnson aus Lion Feuchtwangers »Erfolg«, Hans Mayer aus Erich Kästners »Fabian«, Hans Bender aus Hermann Kestens »Joseph sucht seinen Weg« - und Walter Höllerer aus ihrem »Käsebier«. Auch die Begegnung mit all diesen großen Namen der Berliner Literatenszene macht die Lektüre der Erinnerungen von Gabriele Tergit so spannend.

Gabriele Tergit: Etwas Seltenes überhaupt. Erinnerungen. Herausgegeben und mit Nachwort von Nicole Henneberg. Schöffling, 418 S., geb., 26 €.

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