Der »Stoff der Freundschaftlichkeit«

Andrej Platonows Revolutionsepos »Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen«

  • Thomas Möbius
  • Lesedauer: 7 Min.

Dieser Roman ist einer der größten über die russische Revolution von 1917. Keiner hat so eindringlich wie Andrej Platonow (1899 - 1951) die mit ihr verbundenen Utopien und die Tragik ihres Scheiterns beschrieben. Und er ist von einer außergewöhnlichen Sprache, deren rätselhafter, magischer Ton einen packt und nicht mehr loslässt. In oft verwunderlichen sprachlichen Bildern ruft Platonow die großen Fragen des Lebens auf - die doch die ganz konkret menschlichen sind. Schlicht benennt er den Urgrund der Revolution, ihre Notwendigkeit: »Sascha … mach irgendwas auf der Welt, du siehst ja, die Menschen leben und gehen zugrunde. Wir brauchen doch nur ein kleines bisschen was.« Von dieser drängenden Sehnsucht nach einem »irgendwie anders« handelt »Tschewengur«.

Platonow zeichnet in seinem 1926 bis 1929 geschriebenen Roman ein Bild des ersten Jahrzehnts der Revolution: von ihren widerstreitenden Ideen, den Kämpfen, den Debatten um den richtigen Weg zum Sozialismus und davon, wie mit der Bürokratisierung der neuen Macht das Ideal verraten wird. Das »hier ist eine Seuche und kein Kommunismus«, heißt es traurig am Ende. Er nimmt direkt Bezug auf reale Ereignisse, bis hin zu Zeitungsartikeln.

In Sascha Dwanow, einer der Hauptfiguren, verarbeitet er eigene Erfahrungen. Wie Platonow ist Sascha bei Ausbruch der Revolution gerade erwachsen und arbeitet als Schlosser bei der Eisenbahn. Er beginnt ein Ingenieurstudium, kämpft auf Seiten der Roten Armee. Nach dem Bürgerkrieg wird er von der Partei aufs Land geschickt, »den Kommunismus innerhalb der Selbsttätigkeit der Bevölkerung zu suchen« - übersetzt: die Lage der Sowjetmacht erkunden. Unterwegs trifft er auf Kopjonkin, einen Don Quixote der Revolution, der mit seinem Pferd »Proletarische Kraft« und der Liebe zu Rosa Luxemburg im Herzen durchs Land zieht und gegen die Feinde der Revolution kämpft. Zusammen reisen sie weiter und suchen den Kommunismus. Sie treffen auf unzufriedene Bauern, von der neuen Zeit enttäuschte Revolutionäre, eine verrückte Agrarkommune - alle eine Spur neben dem offiziellen Sozialismus.

In einer Parteiversammlung, in der über die Einführung der NÖP diskutiert wird - ist sie Verrat der Revolution? -, ist zum ersten Mal von Tschewengur die Rede: In dem fernen Provinznest sei der Kommunismus schon verwirklicht. Ist dort der Weg in die Zukunft? Was Kopjonkin und Sascha in Tschewengur finden, ist eine Kommune, in der aller Besitz abgeschafft ist und die »Burshuis«, die bürgerlichen Elemente, »liquidiert« oder vertrieben wurden. Keiner muss mehr arbeiten - nur die Sonne arbeitet als »Weltproletarier« für alle, man lebt von dem, was die Natur gibt. Doch alle zweifeln immer mehr, ob das, was sie haben, wirklich Kommunismus ist. Und es nimmt, kurz gesagt, kein gutes Ende.

Scheitert mit dem Ende Tschewengurs der Kommunismus? Das greift zu kurz. Platonow zeigt, was für ihn fehlt und wie er sich nicht erreichen lässt. Dir geht’s nur um die Idee, nicht um den Menschen, wird dem Vorsitzenden von Tschewengur vorgeworfen. Platonow verstand die Revolution nicht als politische Machtergreifung, sie ist für ihn ein kosmischer Prozess, der eine neue Beziehung zwischen den Menschen hervorbringen muss. Es fällt auf, wie oft im Roman von Freundschaft und Brüderlichkeit die Rede ist, von der Sehnsucht nach Gemeinschaft. Sie sind das Ziel der Revolution: »Merk dir, ein Mensch wächst von der Freundschaft eines andern.« »Stoff der Freundschaftlichkeit« nennt es Platonow. Doch gerade, als sich in Tschewengur ein solches Füreinander-da-sein entwickelt, wird es durch einen Angriff der offiziellen Macht vernichtet. »Vielleicht«, schrieb Platonow an Maxim Gorki, »werden sich in den nächsten Jahren die Gefühle der Freundschaftlichkeit zueinander in der Sowjetunion ›verstofflichen‹. Dann wird alles gut. Dieser Idee ist mein Werk gewidmet, und es bedrückt mich, dass es nicht erscheinen kann.«

»Tschewengur« war 1929 schon zum Druck vorbereitet, doch dann kam das Verbot durch die Zensur: Der Roman stelle die Revolution falsch dar, er könne sogar als »konterrevolutionär« verstanden werden. Auch heute wird »Tschewengur« oft als Kritik des kommunistischen Experiments gelesen. Es gilt als düstere Satire und Dystopie. Doch das übersieht wesentliche Aspekte des Romans.

Nach der Ablehnung schrieb Platonow an Gorki: »Ich habe aber mit ganz anderen Gefühlen gearbeitet und weiß jetzt nicht, was ich tun soll. Ich wende mich an Sie mit der Bitte, das Manuskript zu lesen, und wenn es Ihre Zustimmung findet, zu sagen, dass der Autor recht hat und der Roman einen ehrlichen Versuch enthält, den Anfang der kommunistischen Gesellschaft darzustellen.«

Gorki antwortete ihm: »Ihr Roman ist äußerst interessant … Doch trotz der unbestreitbaren Vorzüge Ihrer Arbeit glaube ich nicht, dass man sie drucken wird. Dem steht Ihre anarchistische Geisteshaltung im Wege, die dem Naturell Ihres ›Geistes‹ offenbar eigen ist. Ob Sie es wollten oder nicht, aber Sie haben der Beleuchtung der Realität einen lyrisch-satirischen Charakter gegeben, und das ist für unsere Zensur natürlich unannehmbar. Bei all Ihrem Zartgefühl für die Menschen sind sie bei Ihnen ironisch gefärbt. Sie werden dem Leser weniger als Revolutionäre, sondern eher als ›Sonderlinge‹ und ›Halbverrückte‹ erscheinen. Ich behaupte nicht, dass Sie dies bewusst tun, aber es ist geschehen, das ist der Eindruck des Lesers, also meiner. Möglich, dass ich mich irre.«

Gorki spürte das Anarchistische in Platonows Außenseiterfiguren - vielleicht, weil er in ihnen die seiner eigenen frühen Erzählungen wiederfand. Und er urteilte bei Weitem nicht so ablehnend, wie es oft verkürzt dargestellt wird. Im Gegenteil. Er vermittelte Platonow an das Moskauer Künstlertheater und riet ihm, aus dem Roman ein Theaterstück zu machen - eine Komödie, kein Drama. Er betonte Platonows »lyrischen Humor«, der eine Nähe zu Gogol zeige.

In der Tat: »Tschewengur« ist oft von absurder Komik. Etwa wenn Kopjonkin in revolutionärer Ungeduld die Bauern eines Dorfes, nachdem er das Vieh unter den Armen verteilt hat, zur »fristgerechten Einrichtung des Sozialismus« ermahnt: »Sieh zu, dass zum Sommer der Sozialismus aus dem Gras herausschimmert.« Doch was Gorki als »lyrisch-satirisch« bezeichnet, ist möglicherweise ein unbewusster Effekt. Platonow nimmt den Glauben an den Kommunismus, die Suche seiner Helden nach einer besseren Welt absolut ernst. Und er nimmt die Ideale und Parolen der Revolution auf fast naive Weise wörtlich, indem er sie mit durch volkstümliche Legenden geprägten Erlösungsvorstellungen aus dem Volk füllt.

Dass wir den unvermeidlich aufscheinenden Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit als entlarvende Satire und Groteske lesen, hat sicher auch mit unserer Distanz zur Revolution zu tun: Wir sehen Platonow die Anfänge ihrer Deformation aufdecken. Doch für Platonow lag in der Frage, ob der Versuch »einer historisch neuen Gesellschaft« scheitere, eine »übergroße Sorge um etwas Geliebtes«, wie er zu seinem Roman »Die Baugrube« schrieb. Die daraus erwachsende Melancholie ist auf jeder Seite zu spüren. »Tragische Satire« nannte es Lola Debüser, die Plato-nows Werke in der DDR herausgab.

»Tschewengur« wurde in der Sowjetunion erst 1988 veröffentlicht. In der DDR begann der Verlag Volk und Welt 1986 eine Platonow-Werkausgabe, darin erschien »Tschewengur« 1990, grandios übersetzt von Renate Landa (Reschke). In der sowjetischen Öffentlichkeit war der Roman ein Ereignis gewesen, die DDR-Ausgabe dagegen blieb ohne große Resonanz. Sie kam zu spät. Ein Teil der Auflage wurde wohl auch vernichtet.

Für die jetzige Ausgabe hat Renate Reschke, die 2017 starb, ihre alte Übersetzung noch einmal überarbeitet. Die Änderungen sind geringfügig. Sie betreffen überwiegend einzelne Formulierungen und Satzstellungen, aus »lebenserfahrenem Gesicht« wurde zum Beispiel »pfiffige Miene«. Einige wenige Sätze sind inhaltlich anders gedeutet. Beigefügt ist dem Roman neben einem Nachwort von Hans Günther, der auch eine Platonow-Biografie schrieb, ein anregendes Gespräch zwischen den Schriftstellern Ingo Schulze und Dževad Karahasan, beide enthusiastische Platonow-Leser. Wer mehr über die philosophischen und zeitgeschichtlichen Bezüge von »Tschewengur« wissen will, lese jedoch Lola Debüsers Nachwort aus der Volk-und-Welt-Ausgabe. Es ist zu wünschen, dass die neue Ausgabe an den Erfolg der Neuübersetzung der »Baugrube« (2016) anschließt. Tiefer noch als in jenem Roman hat Platonow in »Tschewengur« die Tragödie der Revolution und des Sozialismus erfasst, ihre heroischen und verlorenen Illusionen. Er hält die Frage wach, was Sozialismus sein könnte.

Andrej Platonow: Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen. Aus dem Russischen von Renate Reschke. Mit einem Nachwort von Hans Günther und einem dialogischen Essay von Dževad Karahasan und Ingo Schulze. Suhrkamp Verlag, 581 S., geb., 32 €.

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