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Und alle Menschen verloren ihr Gesicht

Barbara Schieb und Jutta Hercher erinnern mahnend an die Pogrome gegen die Juden 1938 in Deutschland und Österreich

  • Werner Abel
  • Lesedauer: 3 Min.

Hannah Arendt schrieb in ihrer Studie über die totale Herrschaft, dass diese sich unter anderem durch die Konstruktion eines »objektiven Feindes« auszeichnet. Dieser, ob eine Person, Gruppe oder Gemeinschaft, wird zunächst moralisch, dann juristisch und physisch eliminiert.

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Barbara Schieb/ Jutta Hercher (Hg.): 1938. Warum wir heute genau hinschauen müssen.
Elisabeth Sandmann, 208 S., geb., 24,95 €.

Wie das konkret geschieht, illustriert eindringlich wie erschütternd die von Barbara Schieb und Jutta Hercher herausgegebene Text- und Bildcollage am Beispiel der Judenverfolgung und der Pogrome in Österreich und in Deutschland. Das Buch, versehen mit einem Vorwort von Klaus von Dohnanyi, versammelt viele bekannte Stimmen, von denen hier Stefan Zweig, Carl Zuckmayer, Erika und Thomas Mann, Marcel Reich-Ranicki, Erich Kästner und Helmut Gollwitzer genannt seien. Menschen, die die Schrecken und den Terror überleben konnten, weil es Solidarität und Widerstand gegen die Verfolger und Henker gab. Aber viele haben mitgemacht, noch mehr weggeschaut. Was den Nazis ermöglichte, mit Oppositionellen blutig abzurechnen. Auch das zeigt das Buch, am Beispiel von Lilo Herrmann, Carl von Ossietzky, Sophie Scholl und Georg Elser. Es ist schon viel über die Pogrome geschrieben worden, dennoch bleibt unvorstellbar, was in Berlin und Wien und an anderen Orten vor 80 Jahren geschah - in Ländern, die sich selbst zu den zivilisatorisch am meisten entwickelten wähnten.

1922 veröffentlichte der jüdische Journalist und Schriftsteller Hugo Bettauer, der 1925 von einem Antisemiten ermordet wurde, mit »Die Stadt ohne Juden« sein vermutlich bekanntestes Buch. Gemeint war die österreichische Metropole mit ihrem grassierenden Antisemitismus. Im »Roman von übermorgen« - so der Untertitel - beschrieb er prophetisch eine antijüdische Gesetzgebung, die schließlich alle Juden zwingt, Wien zu verlassen. Die Folgen sind katastrophal, nach und nach verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage, so dass sich die Stimmen mehren, die eine Rückkehr der Juden fordern.

Bettauers Fantasie hatte nicht gereicht sich vorzustellen, was sich später tatsächlich ereignete. Am 12. März 1938 war die Nazi-Wehrmacht in Österreich einmarschiert. Carl Zuckmayer schrieb: »An diesem Abend brach die Hölle los. Die Unterwelt hatte ihre Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten, unreinsten Geister losgelassen. Die Stadt verwandelte sich in ein Alptraumgemälde des Hieronymus Bosch: Lemuren und Halbdämonen schienen aus Schmutzeiern gekrochen und aus versumpften Erdlöchern gestiegen ... Und alle Menschen verloren ihr Gesicht, glichen verzerrten Fratzen: die einen aus Angst, die anderen in Lüge, die anderen in wilden hasserfülltem Triumph.« Sinnbildlicher kann ein Pogrom wohl nicht beschrieben werden, dabei war das erst der Anfang von Schlimmeren.

War das, was sich im März 1938 in Wien abspielte, die Generalprobe für das Novemberpogrom in Deutschland? Wie war es möglich, dass Menschen mitmachten oder hasserfüllt zuschauten, als ihren Mitmenschen Gewalt angetan wurde? Wie war es weiter möglich, dass sich Menschen ohne Schuldbewusstsein aus dem Eigentum der Verstoßenen und Gequälten bereicherten? Das Buch versucht eine Antwort, auch mit der Auflistung von Gesetzen. 1938 wurden allein in Deutschland 14 antijüdische Gesetze erlassen. Mit der »Kristallnacht« testeten die Nazis dann, wie weit die Bevölkerung ihren Antisemitismus tolerierte. Wie wir wissen - und dieses Buch bestätigt es -, konnten sie n nächsten Schritt zum Genozid planen.

Die Gedenkstunden an das Novemberpogrom sind vorbei, die Beunruhigung wegen dem Anwachsen von Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit bleibt. Sind wir vor dem gefeit, was 1938 geschah? Es beginnt immer im Kleinen, vermittelt das Buch, deshalb sollten wir genau hinschauen.

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