Bleikappe des Schweigens

Am 22. Januar 1979 lief die erste Folge der US-Serie »Holocaust« im deutschen Fernsehen

  • Jürgen Amendt
  • Lesedauer: 6 Min.

Als vor 40 Jahren im Fernsehen der erste Teil der US-Serie »Holocaust« lief, war ich im 14. Lebensjahr. Der Judenmord (der Begriff »Holocaust« für den industriell betriebenen Genozid an den europäischen Juden wurde erst mit dieser Serie in den westdeutschen Sprachgebrauch eingebürgert) war in dem kleinen Dorf in Franken, in dem ich aufwuchs, kein Thema. An den Stammtischen saßen noch die älteren Herren mit Zweifinger-Bärtchen. Dass diese Form des Oberlippenbartes Chaplin-Bart genannt wird, wusste ich nicht. Allgemein üblich war die Bezeichnung Hitler-Bärtchen. Charlie Chaplin kannte ich aus dem Film »Der große Diktator«, der kurz vorher im Fernsehen gelaufen war. Ich hielt den britischen Schauspieler aufgrund seiner Rolle in diesem Film für einen Juden. Sonst kannte ich keinen Juden - weder persönlich noch als Fernsehprominenten. Dass Hans Rosenthal, der Moderator der bei mir und meinen Eltern beliebten Quiz-Show »Dalli Dalli«, Jude war, wusste ich ebenso wenig, wie mir die jüdische Herkunft von Ilja Richter bewusst war (des bei mir noch beliebteren Moderators der Musiksendung »Disco«).

Margarethe von Trottas Spielfilm »Die bleierne Zeit« kam erst zwei Jahre später, 1981, in die deutschen Kinos. Die Geschichte der beiden Ensslin-Schwestern, die im Westdeutschland der Nachkriegsjahre in einem protestantisch-bürgerlichen Milieu aufwuchsen, in der sogenannten bleiernen Zeit, in der über die Verbrechen des Nationalsozialismus die »Bleikappe des Schweigens« (von Trotta in einem Zeitungsinterview 2007) gelegt wurde, hätte auch in meiner fränkischen Heimat spielen können - nur eben fast 20 Jahre später. Hier dauerte die »bleierne Zeit« der 1950er und frühen 1960er Jahre bis weit in die 1970er Jahre fort. Die von der 68er-Rebellion angestoßenen Veränderungen sickerten nur nach und nach in die Provinz ein. Eine der Lehrerinnen in der Grundschule verteilte noch 1972 Ohrfeigen und Hiebe mit dem Lineal auf die Hand, und über die NS-Zeit wurde weder in den Familien noch öffentlich gesprochen.

Wenn wir als kleine Jungs vor Silvester Böller kaufen wollten, wussten wir, dass es diese in einem Krämerladen im Ort gab, der von einer älteren Frau geführt wurde, die über keinen guten Ruf im Dorf verfügte. Viele Jahre später erzählte mir mein Vater (Jahrgang 1937), sie sei in der Nazi-Zeit »eine Einhundertfünfzigprozentige« gewesen. Bei ihr erhielten wir Zehnjährigen auch jene Böller, die erst ab 18 freigegeben waren. Und es gab bei ihr auch die kleinen harmlosen Knallfrösche. Sie nannte sie »Juddefötz« (»Judenfürze«) und wir übernahmen den Begriff. Ich verwendete ihn, ohne dass mir überhaupt bewusst war, dass er das Wort »Jude« enthält. Juden gab es nicht, nicht mehr. Dass viele der Geschäfte im Dorf einst jüdische Eigentümer hatten, einst sogar jeder zehnte Einwohner jüdisch war - darüber war die die »Bleikappe des Schweigens« gelegt.

Ein Jahr vor Ausstrahlung der Serie »Holocaust« wurde das Schweigen durchbrochen - von außen. In Bürgstadt, einer Gemeinde im Landkreis, war Ernst Heinrichsohn seit 1960 CSU-Bürgermeister, wiedergewählt wurde er 1978 mit 85 Prozent der Stimmen. Da wussten die Einwohner von Bürgstadt bereits, dass er als SS-Offizier in Frankreich an der Deportation von Juden nach Auschwitz beteiligt war (1956 wurde er deshalb in Frankreich in Abwesenheit zum Tode verurteilt). Die ZDF-Sendung »Kennzeichen D« zeigte damals mehrere Beiträge über Heinrichsohn, die ich mir alle anschaute. Meine Eltern hatten Freunde, die aus Bürgstadt stammten. Wenn sie zu Besuch kamen, sprach ich sie nie auf Heinrichsohn an. Ich schwieg.

Als ich 1993 vor den Überresten der Krematorien in Auschwitz stand, fiel mir die Geschichte mit den »Juddefötz« wieder ein. Gemeinsam mit anderen politisch links stehenden Menschen hatte ich damals die Gedenkstätte in Auschwitz-Birkenau besucht. Zur Vorbereitung der Fahrt gehörte auch die Auseinandersetzung mit dem »Fall Heinrichsohn«. 1980 wurde Heinrichsohn zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, 1982 allerdings vorzeitig aus der Haft entlassen. Er zeigte keine Reue. 1994 starb er. Einige Monate vor seinem Tod lag er auf der Intensivstation im Krankenhaus in Aschaffenburg. Einer seiner Pfleger war ein guter Bekannter von mir, der die Gedenkstättenfahrt 1993 mit vorbereitet hatte. Wir beide waren uns damals sicher, dass wir Leuten wie Heinrichsohn, sollten wir sie je treffen, die Wahrheit (»Ihr wart Mörder!«) ins Gesicht sagen würden. Als mein Bekannter ihn im Krankenbett liegen sah und ihn fragte, ob er »der Heinrichsohn« sei, antwortete die vom Krebs gezeichnete Gestalt mit »Ja«. - »Und«, frage ich meinen Freund, »was hast du ihm gesagt?« - »Nichts, mir fehlten die richtigen Worte. Ich schwieg und pflegte ihn wie jeden anderen Patienten auch.«

Die Serie »Holocaust«, so ist es im Untertitel zu lesen, sei »die Geschichte der Familie Weiss«. So erinnern sich die meisten, und so wurde in den vergangenen Wochen zum 40. Jahrestag der Erstausstrahlung an die Serie erinnert. Aber das stimmt nur zum Teil. »Holocaust« erzählt auch die Geschichte des SS-Offiziers Erik Dorf und von dessen Familie. Als er am Ende des letzten Teils festgenommen, von einem US-Offizier verhört und auf seine Beteiligung an den Verbrechen angesprochen wird, rechtfertigt sich Dorf: »Das Judenproblem musste gelöst werden. Hätte man sie in ihren Stellungen belassen, hätten ihr Geld und ihr Einfluss das Deutsche Reich zerstört. Deshalb mussten auch die Kinder ›sonderbehandelt‹ werden.« Eine Minute später zerkaut er die Zyankali-Kapsel in seinem Mund.

In der letzten Szene überbringt Erik Dorfs Onkel Kurt, der als Straßenbauingenieur in Auschwitz tätig war, der Witwe des Mörders die Nachricht vom Suizid ihres Mannes. »Du lügst«, empört diese sich. »Nein«, entgegnet Kurt Dorf, »ich habe zu so vielem geschwiegen. Wir müssen erkennen, dass wir alle uns schuldig gemacht haben. Ich werde nicht schweigen.«

So endet die 1979 gezeigte deutsche Fassung. Im US-Original gibt es einen Epilog. Rudi Weiss, einer der beiden Söhne der Berliner Familie Weiss, der bei den Partisanen in der Ukraine kämpfte, kommt ins befreite Ghetto Theresienstadt, wo er auf Inga, die Witwe seines in Auschwitz ermordeten Bruders Karl, trifft. Im Ghetto wird gefeiert, die Stimmung ist ausgelassen, man sieht fröhliche Gesichter. Auf dem Rasen spielen einige Jungs Fußball. Die Eltern dieser Kinder, griechische Juden, seien tot, erläutert ein Mitarbeiter der Jewish Agency for Palestine Rudi Weiss. Sie bräuchten einen Shepherd, einen Beschützer, der sie sicher nach Palästina schmuggle. Rudi Weiss übernimmt den Job. Die Schlussszene zeigt einen Fußball spielenden, lachenden Rudi Weiss.

Wie die Geschichte der Juden, die die Vernichtung überlebt hatten, weiterging und wie der Holocaust auch mit dem Nahost-Konflikt zusammenhängt, wollten die ARD-Verantwortlichen dem Publikum dann doch nicht zumuten, oder? Günter Rohrbach, damals WDR-Fernsehspielchef und verantwortlich für den Einkauf der Serie, nennt heute einen anderen Grund. Das US-Ende sei ihm »zu weich« gewesen, die Deutschen sollten sich mit ihrer Schuld auseinandersetzen. Schon die Ausstrahlung war in der ARD umstritten. Das Votum, die Serie wenigstens in den Dritten zu zeigen, fiel denkbar knapp aus. Deshalb lief sie auch nicht im Hauptprogramm ab 20.15 Uhr, sondern - ein Novum in der Geschichte der ARD - in allen Dritten Programmen zeitgleich ab 21 Uhr. Die Reaktionen waren gemischt. Bei den Sendern riefen nach den Sendeterminen Zehntausende an; manche weinten am Telefon. TV-Verantwortliche bekamen aber auch Morddrohungen, und auf zwei Sendemasten wurden von Rechtsextremen Sprengstoffanschläge verübt. So schwer fiel es damals vielen, die »Bleikappe des Schweigens« abzulegen.

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