Der Faschismus ist nicht weg

Hunderte gedenken in Berlin-Moabit der Pogromnächte und der ermordeten Juden

  • Mascha Malburg
  • Lesedauer: 3 Min.

In der dritten Etage eines Altbaus in Moabit flackern zwei Kerzen. Am offenen Fenster stehen zwei junge Frauen, weit halten sie die Lichter in die verregnete Nacht hinaus. Schweigend beobachten sie den Gedenkzug zum 81. Jahrestag der Novemberpogrome, der zu ihren Füßen in Richtung des Güterbahnhofs Moabit zieht. Von dort wurden etwa 30 000 Menschen in verschiedene Konzentrationslager deportiert. In Gruppen trieb die Polizei Jüdinnen und Juden von der als Sammelstelle missbrauchten Synagoge Levetzowstraße quer durch das Viertel zum Bahnhof. Auch aus dem Fenster in der dritten Etage konnte man das gut sehen. Doch ein Großteil der Anwohner zog die Vorhänge zu und verschloss die Augen vor dem Verbrechen.

»Kein Vergessen! Kein Vergeben!« lautet daher der Titel der Gedenkveranstaltung, zu der die »Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten« jährlich am 9. November aufruft. Auch an diesem Samstag sind wieder Hunderte nach Moabit gekommen, um an die Schrecken der Pogromnächte des Novembers 1938 zu erinnern.

Die Kundgebung beginnt vor einer Baulücke in der Levetzowstraße. Hier stand eine der größten Synagogen der Stadt. In der Pogromnacht vergleichsweise wenig beschädigt, fanden im Innenraum weiter Gottesdienste mit bis zu 2000 Betenden statt, während das Leben draußen immer gefährlicher wurde. Davon erzählt der Zeitzeuge Peter Neuhof, Sohn kommunistisch-jüdischer Widerstandskämpfer. »Der Nazimob tobte sich in diesen Tagen aus - auf Befehl. Es war nicht mehr weit nach Auschwitz«, sagt er. Drei Jahre später ließ die Gestapo die Bestuhlung der Synagoge herausreißen. Juden der umliegenden Viertel wurden im Gebäude zusammengepfercht, bevor sie deportiert wurden.

»Der Faschismus kam nicht über Nacht, seine Gedanken verschwanden nicht mit seinem Ende«, warnt Neuhof. Die »Nachbraunen«, wie er sie nennt, erhöben ihre Stimme wieder in den deutschen Parlamenten.

»Wenn wir über Menschen sprechen, die vor 80 Jahren ermordet wurden, müssen wir auch über Menschen sprechen, die gegenwärtig ermordet werden«, sagt Dikla Levinger. »Lass uns darüber sprechen, dass der jüngste Anschlag in Halle gegen Jüdinnen, gegen Musliminnen und Feministinnen gerichtet war.« Als Jüdin, Frau, Feministin und Sozialistin fühle sie sich von vier Seiten angegriffen. Levinger ist Leiterin der sozialistischen, säkularen und zionistischen Jugendbewegung »Hashomer Hatzair« in Berlin. 1914 gegründet, entwickelte sich die Organisation mit 70 000 Mitgliedern während des Zweiten Weltkrieges zu einer der größten jüdischen Widerstandsgruppen gegen die Nazis. 2012 gründete sich die Sektion in Berlin neu und erfahre immer noch viel Widerstand, sagt Levinger. Daher sei es umso wichtiger, Antisemitismus, Antiislamismus, und alle anderen Arten von Rassismus, sowie patriarchale Strukturen immer wieder als Problem zu benennen und gemeinsam zu bekämpfen.

Nach der Kundgebung legen die Demonstrierenden am Mahnmal Levetzowstraße Rosen und kleine Steine ab. Eine Frau singt ein jiddisches Lied. Dann macht sich der Demozug auf zum S-Bahnhof Westhafen. Es ist die gleiche Route, auf der Juden ab 1941 aus der Sammelstelle zum Güterbahnhof getrieben wurden. »Es ist alles sehr bedrückend«, sagt Leonie, die ihr Gesicht tief in den Schal vergräbt. Auch ihr Freund Jonathan ist sichtlich ergriffen.

Sabine läuft zum ersten Mal mit. Ihr Sohn, der zu Antisemitismus forscht, hat sie mitgenommen. Für die Berlinerin ist das diesjährige Mauerfalljubiläum zwar ein sehr einprägsames, persönliches Erlebnis, aber die Erinnerung an 1938 sei eben sehr wichtig, sagt sie. Während viele am Brandenburger Tor feiern, zieht sie mit den anderen zur Putlitzbrücke, die die Bahn überspannt. Vor dem Deportationsmahnmal endet die Demo. Im Blaulicht der umstehenden Polizeiwagen zünden die Menschen Kerzen an. Unten pfeift der Wind über die Gleise.

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