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»Nicht nur aus kühlem Geschichtsinteresse«

Von Befreiung vom Faschismus war im westdeutschen Staat jahrzehntelang keine Rede.

Wenn es um das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland geht, wird oft und gern auf die Rede Richard von Weizsäckers 1985 verwiesen. Der CDU-Politiker, damals seit einem Jahr Bundespräsident, sprach am 8. Mai bei einer Gedenkstunde im Plenarsaal des Bundestages. »Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft« war die Rede überschrieben, die als Meilenstein der westdeutschen Geschichtsbetrachtung gilt - die bis dahin vor allem von Verharmlosen, Schönreden und Verschweigen geprägt war.

Weizsäcker bezeichnete in seiner Rede den 8. Mai 1945 als »Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.« Das waren ungewohnte Töne. Befreiung vom Faschismus - das war die in der DDR längst übliche Bezeichnung; im westdeutschen Staat war bis dahin von Befreiung so gut wie keine Rede gewesen, schon gar nicht bei Konservativen.

»Vergangenheit in die Versenkung«

Ohnehin beschäftigte sich die westdeutsche Gesellschaft nur ungern mit der faschistischen Vergangenheit. Die Kontinuitäten aus dem Nazi-Staat, ideell und personell, wirkten über Jahrzehnte fort; nicht als Begleiterscheinung, sondern als sinnstiftende Traditionslinie. Auch auf Weizsäckers zweifellos mutige Rede sollten wütende Beißreflexe folgen. Der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß beispielsweise forderte, die Vergangenheit »in der Versenkung« verschwinden zu lassen, denn »die ewige Vergangenheitsbewältigung als gesellschaftliche Dauerbüßeraufgabe« lähme ein Volk nur.

Die Rede Weizsäckers hatte freilich ihre Vorgeschichte. Sie wäre in dieser Form nicht denkbar gewesen ohne den Aufbruch von 1968, ohne die Fragen der Nachkriegsgeneration nach der Schuld und Verantwortung der Eltern. Bei der Bundestagswahl im März 1983 hatten es die Grünen, die wichtigste politische Stimme der 68er, erstmals in den Bundestag geschafft. Eine Revolution im westdeutschen Parteien- und Parlamentssystem.

ndPodcast zum 8. Mai - Von Tim Zülch

Nur wenige Woche später versuchte die Grünen-Fraktion, eine - so das Protokoll - Sondersitzung des Bundestags »aus Anlass des 38. Jahrestages des Endes der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkrieges« durchzusetzen. Im Ältestenrat des Parlaments war das Ansinnen abgelehnt worden, deshalb setzten es die Grünen auf die Tagesordnung der nächsten Plenartagung am 5. Mai.

Für die Grünen erinnerte Jürgen Reents - der vom Kommunistischen Bund zu dem neuen Parteiprojekt gekommen war und viel später sehr lange Chefredakteur des »neuen deutschland« sein sollte - daran, dass der Bundestag »seine Existenz der Tatsache verdankt, dass am 8. Mai 1945 der Faschismus hier zu Ende gegangen ist und dass es deswegen eigentlich der erste Anlass eines solchen Parlaments sein sollte, darüber genauer nachzudenken und darüber auch eine Diskussion zu führen«.

Wenn die Debatte ernsthaft geführt würde

Die Grünen ahnten, dass sie im Parlamentsplenum keine Mehrheit für ihren Vorschlag finden würden. »Vielleicht hängt das auch damit zusammen«, so Reents damals im Bundestag, »dass eine Debatte über das Ende der faschistischen Herrschaft, wenn sie ernsthaft und nicht nur aus kühlem Geschichtsinteresse geführt wird, allerdings auch thematisieren würde, inwieweit der Faschismus in diesem Land tatsächlich verarbeitet ist … oder inwieweit es in diesem Land, vielleicht in letzter Zeit sogar vermehrt, wieder Einbruchstellen für den Faschismus geben kann.«

Reents’ Parlamentsrede, die gegen Dauerlärm aus den anderen Fraktionen anzukämpfen hatte, stieß letztlich auf geballte Ablehnung. Für die CDU/CSU verstieg sich Wolfgang Schäuble zu dem Hinweis, niemand solle den 8. Mai »politisch missbrauchen«. Der SPD-Abgeordnete Volker Hauff erinnerte daran, dass der Bundestag ja immerhin am 8. Mai 1970 (!) eine Gedenkveranstaltung abgehalten habe. Damals übrigens hatten neben anderen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) und der CDU-Abgeordnete Richard von Weizsäcker gesprochen. Von Befreiung war bei niemandem die Rede, weder 1970 noch 1983. Das blieb - jedenfalls für den Westen Deutschlands - der Weizsäcker-Rede von 1985 vorbehalten.

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