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Familiäre Übernahme

Mit der DDR ging auch Westberlin unter. Ein Rückblick auf die Musikszenen der Stadt vor und nach der Wende.

  • Ewart Reder
  • Lesedauer: 9 Min.

Wie weit geht der Blick zurück, von 1989/90 aus? Bis 1971? Da verliebte sich in Travemünde ein junger Tunesier mit gabunischen Wurzeln in eine junge Frau aus Berlin. Staunend erfuhr er, dass die Heimatstadt der Liebsten von einer Mauer geteilt wurde. Oder bis 1977? Da packte ein junger Berliner auf der Weender Straße in Göttingen, wo die Mutter es nicht sah, seine Querflöte aus und verdiente mit ihr das erste Geld. Oder bis zum Anfang der Achtziger? Da fand eine junge Berliner Geigerin am Theater des Westens eine Festanstellung und lernte ihren zukünftigen Mann kennen. Der spielte da Kontrabass.

Westberlin wurde »Selbständige politische Einheit« genannt, de facto war die Teilstadt der dritte deutsche Teilstaat. Die musikalischen achtziger Jahre in dieser Stadt wurden schon düster beschrieben. Sven Regener von der Band Element of Crime tut in seinem Roman »Herr Lehmann« so, als wäre er gar kein Musiker und erzählt von lauter Kellnern, die damals nichts wollten als kellnern. Felix Denk und Sven von Thülen erwecken in ihrem Gesprächsband »Der Klang der Familie« den Eindruck, als wäre die Popmusik zum Ausgang der Achtziger an Einfallslosigkeit erstickt, hätte der Techno sie nicht gerettet. Wolfgang Müller erinnert aus der Zeit, als seine Avantgarde-Band Die Tödliche Doris berühmt wurde, vor allem den »Kommerz, der sich damals eine Szene kreiert und sämtliche Künstler korrumpiert hat«.

Freiheit war das Wichtigste

Sidniyes Ez Zadam aus Tunesien sah es anders. Von der Freundin nach Westberlin gelockt, fand er dieses aufregend. Im »Big Eden« am Kudamm mit Stroboskoplicht, Funk und Soul ging es ihm gut. Zehn Jahre lang erlebte er, wie die einzige deutsche Clubszene ohne Polizeistunde ins Unkraut schoss. Die nächsten zehn Jahre, die Achtziger, mischte er die Szene auf. Zunächst mit einem Plattenladen. »Number One Black Music« in der Nürnberger Straße verkaufte Direktimporte aus den USA und hatte bald alle DJs und Radiomoderatoren einschließlich denen des US-Soldatensenders AFN als Kunden. Irgendwann stand Enzo di Nunno, der Besitzer des legendären »La Belle«, im Laden und bot Ez Zadam eine Beteiligung an. Der Club laufe nicht mehr gut. Was über 50 000 Mark im Monat rein kommen würde, könne Ez Zadam behalten. Der machte die 50 000 immer schon nach zwei Wochen und kam zu Geld. Als di Nunno ihn feuerte, aus Neid, sagt Ez Zadam, dauerte es nicht lange, und der Tunesier hatte seinen eigenen Club. Der Name fiel ihm beim Sex ein: »Chic«. »Drei Jahre lang hab ich alle ausgestochen«, grinst er. Weitere sieben Jahre feierte der Club Erfolge, machte DJs wie Wendell berühmt, brachte Bands wie Millie Jackson und Midnight Star nach Berlin.

»Es gab am Adenauerplatz eine G.I.-Disko«, erinnert sich im »Klang der Familie« Love-Parade-Mitgründerin Kati Schwind an das Chic, »da bin ich sehr gerne hingegangen, weil die Musik da extrem gut war und ich immer gerne getanzt habe. Das war immer ein kleiner Ausflug in eine andere Welt.« Was auch heißen soll: Sonst war in Berlin nichts mehr los. Und Johnnie Stieler, Mitgründer des »Tresor«, spricht für das Ende der Achtziger von einer »Berliner Krankheit. Das bezeichnete so einen besonders absurden Punk, der auch elektronisch sein konnte, so was wie die Tödliche Doris.« Es sei eine Lebenshaltung gewesen. »Die bestand im Wesentlichen darin, nichts auf die Reihe zu kriegen.«

So klingt die Geschichte der Sieger, erzählt in der Technofamilie. Wolfgang Müller, der Tödliche-Doris-Erfinder, hält dagegen: »Freiheit war für mich das Wichtigste. Klassisch Karriere machen wollte ich nicht.« Konsequenterweise löste Die Tödliche Doris sich auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs auf. »In Wein«, wie Müller ergänzt, »ganz wörtlich.« Der Name stand fortan auf Weinflaschen, die beim Reimport aus Italien vom Zoll konfisziert worden waren. Der Glykolskandal beherrschte damals die Medien: österreichische Winzer hatten ihre Weine mit Glykol gepanscht. In dieser Atmosphäre waren toxische Witze auf Weinetiketten tödlich.

Wolfgang Müller wurde Kellner im neu gegründeten Lokal »Kumpelnest«. Das gehörte Mark Ernestus, dem späteren Musikproduzenten (Basic Channel). Er zahlte fürstliche Gehälter und versammelte Künstler*innen bei Getränken und alltäglicher Kunstproduktionsvermeidung. »Herr Lehmann« lässt grüßen.

Der listenreiche Spielmann

Der Flötist Bam Dorner erinnert sich an die Achtziger in Berlin als kreative Zeit. Es waren seine Anfänge als Straßenmusiker, mit Stammplatz am Kudamm-Karree und seinem ersten Zwei-Stunden-Programm. Überschüssige Energien führten ihn für einen Winter nach Barcelona. Als er zurück wollte, wurde sein »Fremdenpass« an der französischen Grenze nicht anerkannt. Unfreiwillig, aber gern tourte er für sechseinhalb Jahre durch Europa. Schluss war in Grenoble. Er wurde bedroht und ausgeraubt. Ohne Geld und Instrumente musste er nach Westberlin zurück. Kaum zwei Wochen in der Stadt erfuhr er aus »Aktenzeichen XY«, dass der Räuber von Grenoble international gesucht wurde. Er hatte sieben Menschen ermordet.

Musiker sind zuweilen empfindlich. Bam Dorner wechselte den Beruf und heuerte beim Wachschutz an als Nachtwächter. Seine Flöte begleitete ihn in Objekte wie die Neue Nationalgalerie und die Sarotti-Fabrik, erklang dort für ungestörte Übungsstunden in märchenhaftem Hall. Diese Nachtarbeit legte den Grundstein für Dorners heutiges Hauptfach: die elektronische Musik. Für sie betreibt er das internationale Forum »Music-Society«.

Und dann kam die Wende

Dorner saß an einem regnerischen neunten Novemberabend in seiner Wohnung in Wilmersdorf und empfing Gäste. Zu essen gab es Sarotti-Schokolade, zu trinken eher Erwachsenes. Der letzte Gast erzählte etwas von offener Mauer und Ossis in der Stadt. Er bekam einen Drink und beruhigte sich wieder. Irgendwann war die Schokolade alle, man brach auf, um sich Döner zu holen. Vor dem Haus wurde Dorner ums Haar von zwei Trabis gleichzeitig überfahren. Im türkischen Imbiss lief, was nie zuvor geschehen war, nicht TD1. Sondern SFB, das Dritte. Und zeigte: Die Mauer war tatsächlich offen. Man ging zum Kudamm und ertrank in der Masse, zum ersten und letzten Mal dort: in Trabis. Vom nächsten Tag an war der Boulevard Fußgängerzone.

»Die Veränderung im Alltag kam sofort, aber scheibchenweise«, erinnert sich Dorner. Zum Wachschutz zog es viele NVA-Ehemalige. Hier konnten sie weiter eine Uniform tragen. Dorner musste sie einarbeiten. »Irgendwann war so ein abgebrochener Muskelprotz dabei, der kam morgens ohne Tasche. Auf die Frage, was er die nächsten zwölf Stunden essen wolle, antwortete er: Ich brauch die Hände frei zum Türken Verkloppen.« Die Vorgesetzten zeigten auf die Neuen: So adrett wie die könne Dorner sich auch frisieren. Wenn von denen einer nach zwölf Stunden nicht abgelöst wurde, arbeitete er einfach noch mal zwölf.

Die Geigerin Sascha Lewin in ihrem Theater des Westens merkte, dass nicht mehr alle Vorstellungen ausverkauft waren. Das Metropol-Theater, der Friedrichstadt-Palast, die Konkurrenz in Mitte tat weh. Zwar hatte man mit einer Inszenierung von »Porgy and Bess« als teilweise in New York gecasteter »all black opera« gerade den Audience Award gewonnen. Helmut Baumann als Intendant landete einen Erfolg nach dem anderen. Der Berliner Senat fasste dennoch schon 1990 den Beschluss, die Theater des Westens Betriebs-GmbH zu verkaufen - der Anfang vom Ende.

Darf’s auch nur die Hälfte sein?

Erst wurde das Ballett aufgelöst, dann der Chor. Vom Orchester blieb ein Torso, aber Lewin und ihr Mann, der Jazzbassist Hans-Dieter Lorenz, waren dabei. Noch gab es auch die »Muckenszene«, verdiente man bei Gigs in Hartmut Kupkas Tanzorchester 70 Mark die Stunde. Mal zwei für das Ehepaar. Es wurde ein Sterben auf Raten. Als Baumann hinwarf, gab der Nachfolger Elmar Ottenthal die Parole aus: »Das Orchester muss sich verdienen«. In den Pausen eilte Lewin ins Hochparkett-Foyer und geigte zum Sekt. Die After-Show stieg in der Zigarrenlounge, wo Premiumkunden im Wohlklang benebelt weiter schwelgten. Hartmut Kupka war irgendwann pleite. Hervorragend ausgebildete Brüder und Schwestern aus Mitte spielten seine Gigs für etwas mehr als die halbe Gage. Im Theater des Westens war 2002 Schluss. Der Konzern »Stage Entertainment« als Käufer löste das Orchester auf. Zwei junge Eltern standen vor dem Nichts. Später wurden Einzelne wieder rekrutiert. Lewin und ihr Mann entschieden: Lorenz strich den Bass weiter. Seine Frau wechselte ins Marketing, später an den Ticketschalter. E.T.A. Hoffmann grüßt. Der ging 1808 als Kapellmeister ans Bamberger Theater - und riss noch im selben Jahr dessen Billetts ab.

Unselbständiges Ende

So schnell bergab ging es auch für Sidniyes Ez Zadam. Die Westberliner Clubs waren gleich nach dem Mauerfall leer. In Mitte spielte der verlängerte Sommer der Anarchie, mit wöchentlich neuen Locations ohne Regeln, oft auch ohne Gagen. Die Raverszene versorgte sich selbst und saugte gierig an anderen Szenerändern. Ez Zadam häufte Zehntausende Schulden an. Die G.I.-Stammkundschaft verließ die Stadt. Dann wurden die Mietverträge nicht verlängert. Zwei Clubs hatte Ez Zadam, als er Pleite ging. Im zweiten, dem »Sidney’s«, hatte noch Marusha aufgelegt. Aber nur einmal. Der Boss wollte sich das kein zweites Mal anhören.

Beim Wachschutz bat man Bam Dorner aufs Büro. Und bot ihm an, für acht Mark fünfzig die Stunde weiter zu arbeiten statt, wie bisher, für zwanzig. Er nahm es als Kündigung, wurde arbeitslos. Und startete bald eine zweite Karriere als Straßenmusiker, diesmal in Mitte. Mit seinem Amiga-Computer komponierte er eine »Begleitautomatik«, so hieß das damals. Und stand neben seinem Ghettoblaster erst auf der Spreebrücke hinter dem Dom, später vor den Straßencafés auf dem Gendarmenmarkt. Zehn Jahre lang war der Zwei-Meter-Mann mit Hut ein Pflichtmotiv auf allen Touristenfotos.

Der Verdienst war gut, bis die Zeiten wieder schlecht wurden. Dorners Standplatz wurde von hervorragend ausgebildeten Musikern eines ehemaligen Brudervolks beansprucht. 2004 sprach ihn jemand scharf an, auf Russisch. Als er auf Deutsch antwortete, erfuhr er: Den Standplatz habe der Russe gekauft. Dorner solle sich nie wieder blicken lassen. Der Verjagte ging zur Polizei und erstattete Anzeige. Der Jäger wurde ausgewiesen - und war drei Tage später wieder da. Es war das Ende von Dorners Karriere als Straßenmusiker. Er wandte sich endgültig der elektronischen Variante zu. Und komponiert, wenn er nicht gestorben ist, Ambient- oder Acidjazztracks für den gehobenen Bedarf. Keinen »Bummbummscheiß« jedenfalls, wie die Siegermusik Techno in dem Roman »Herr Lehmann« zärtlich heißt.

Wolfgang Müller in seinem »Kumpelnest« bekam nur wenig mit von der Wende. Die Euphorie sprang dabei nicht auf ihn über. Der regierende Bürgermeister Diepgen fuhr auf einem Junge-Union-Wagen mit der Love-Parade durch die Stadt. »Hedonismus und Entpolitisierung waren knallharte Politikprojekte«, sagt Müller. Sarrazin und die PDS verkauften dann Berlins städtische Wohnungen. Doch Müller hatte 1990 eine neue Liebe gefunden: Island. »Meine Ersatzinsel für die untergegangene Insel Westberlin.« Die Isländer seien stolz darauf gewesen, dass es keine Millionäre unter ihnen gab. Ihr Präsident hatte keine Leibwächter. Überall auf der Insel fuhren Wartburgs - und sogar Trabis. Damals.

Aber was war die Wende für die Ostberliner? Sie war auch das: Die Novizen des Kapitalismus trampelten als Erstes mal ein Reservat von karrierescheuen Native Aliens nieder, auf Einladung eines Drittstaats, in dem hinterher alle vereint wohnten, und mit der gerührt-besoffenen Zustimmung der Überrannten selbst. Eine Stadt und noch eine Stadt ergab ein Land. Berlin, Hauptstadt der DDR, schluckte die Selbständige politische Einheit Berlin (West), auch wenn deren politische Führung weiter regierte, blieb Hauptstadt und wurde Bundesland. Das schluckten dann wieder Andere: die Westverwandtschaft namens Bundesrepublik Deutschland.

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