Der Kaßberg-Knast als Hoffnungsschimmer

In einem Chemnitzer Gefängnis soll an den DDR-Häftlingsfreikauf erinnert werden - und auch an die NS-Geschichte der Haftanstalt

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 7 Min.

Der Gedanke wirkt befremdlich: ein Gefängnis, das Zuversicht weckte. Und doch stand die Haftanstalt auf dem Kaßberg in Karl-Marx-Stadt für die Aussicht auf bessere Zeiten. »Kalle-Malle war ein Hoffnungsschimmer«, sagt Christian Bürger, »zumindest für manche Häftlinge«. Wer aus einer anderen Strafanstalt in der DDR auf den Kaßberg verlegt wurde, der durfte hoffen, dass die Zeit im Knast bald beendet war - meist freilich auch die Zeit in dem Land. Das Gefängnis war ab 1966 die zentrale Drehscheibe für den Freikauf von Häftlingen aus der DDR, der in der Regel in die Bundesrepublik führte. Knapp drei Milliarden D-Mark zahlte der Westen, damit exakt 31 775 wegen politischer Delikte verurteilte Menschen in der DDR aus der Haft entlassen wurden. Diese Art von Geschäften, sagt Jürgen Renz, »war in Europa nahezu einmalig«.

30 Jahre nach Untergang des einen der beteiligten Länder und damit dem Ende der Transaktionen stehen Renz und Bürger am Ort des Geschehens: im Gefängnis auf dem Kaßberg. Ein Lichthof über drei Etagen, von dem je 16 Zellen abgehen; stählerne Treppen; Gitter. Renz leitet einen Verein, der in einem Flügel des Gefängnisses einen »Lern- und Gedenkort« einrichten will. Bürger arbeitet im Vorstand und ist, wie man so sagt, Zeitzeuge: Er kennt das Gefängnis auch von innen. Von Februar bis Juni 1986 saß er als 30-Jähriger in der Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in einer Einzelzelle. Auslöser waren seine Aktivitäten in einer christlichen Jungen Gemeinde und eine geplante Republikflucht. Nach der Verurteilung wurde er nach Cottbus verlegt. Wenn dort nachts Schlüssel klapperten, habe auch er Stoßseufzer gesendet: »Bitte, lass mich dabei sein!« Die Insassen hätten gewusst: Transporte nach Karl-Marx-Stadt gehen in der Nacht. Und Karl-Marx-Stadt - »das war das Tor zur Freiheit«.

Mit dem Slogan »Tor zur Freiheit« wirbt der 2011 gegründete Verein für die Einrichtung der Gedenkstätte. Enrico Hilbert ist mit der Formulierung nicht so ganz glücklich. Er arbeitet in Chemnitz in der Vereinigung der Verfolgten des Nationalsozialismus - Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) und recherchiert Schicksale von Menschen, die in der NS-Zeit auf dem Kaßberg inhaftiert waren. Max Saupe etwa, ein Stadtverordneter der KPD, der schon kurz nach der Machtergreifung der Nazis in dem Gefängnis in »Schutzhaft« genommen wurde, später ins Konzentrationslager Sachsenburg kam und nach einiger Zeit auf freiem Fuß in die KZ Sachsenhausen und Bergen-Belsen, wo er 1945 starb. Für Menschen wie Saupe »war der Kaßberg kein Tor zur Freiheit«, sagt Hilbert, »sondern oft das Tor in die Lager, die Strafbataillone und den Tod«.

Das Gefängnis auf dem Kaßberg ist, was Zeithistoriker einen »Ort mit doppelter Vergangenheit« nennen: Die 1886 errichtete Haftanstalt war ein Element im Repressionssystem der NS-Diktatur, und sie war ein Ort, an dem in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und in der DDR Unrecht geschah. Die Devisengeschäfte mit den Häftlingen seien »eine Art Menschenhandel« gewesen, sagt Christian Bürger, »ein im Grunde perverses Geschäft«. Welche Rolle die Bundesrepublik spielte, sei in der bisher nicht sehr umfangreichen Forschung noch strittig, sagt Renz: »War es eine humanitäre Geste? Hat man die Doppelmoral der DDR entlarvt? Oder aber deren politisches System stabilisiert, indem man vermeintliche ›Störenfriede‹ herausholte und dafür auch noch Devisen überwies?«

Orte mit doppelter Vergangenheit gibt es in Sachsen etliche, und in der Regel sind sie Schauplatz eines harten Ringens um ein angemessenes und ausgewogenes Gedenken. Beispiel Torgau: Dort befand sich die Zentrale der Wehrmachtsjustiz im NS-Staat, die Tausende Todesurteile fällte. In der Dauerausstellung »Spuren des Unrechts« im Torgauer Schloss Hartenfels soll das Schicksal dieser Opfergruppe im Fokus stehen. Tatsächlich werden SBZ- und DDR-Zeit in gleicher Ausführlichkeit dargestellt. Seit 2004 gibt es deshalb erbitterten Streit; 2017 zog sich die Bundesvereinigung der Opfer der Wehrmachtsjustiz zurück. Die Rede ist von einem »erinnerungspolitischen Versagen«. Ähnlichen Zwist gab es in Bautzen, dem Ort des »Gelben Elends«, wo in der DDR viele politisch Missliebige inhaftiert waren. Unstrittig ist, dass der Schwerpunkt des Gedenkens hier auf dieser Periode liegt. An die NS-Epoche sollte indes mit einem eigenen Abschnitt der Dauerausstellung ebenfalls erinnert werden - was nach schier endloser Verzögerung aber erst seit 2018 der Fall ist. Auch Bautzen galt deshalb als Synonym für eine unausgewogene Erinnerungspolitik.

Torgau und Bautzen sind keine isolierten Phänomene. Vielmehr gab es in Sachsen über Jahre einen grundsätzlichen Streit um ein ausgewogenes Gedenken. Zunächst entzündete er sich am sächsischen Gedenkstättengesetz. In der Präambel, so der Vorwurf, seien NS-Diktatur und Unrecht in der DDR gleichgesetzt worden. Der Konflikt eskalierte derart, dass sich namhafte NS-Opferverbände aus den Gremien der Sächsischen Stiftung Gedenkstätten zurückzogen, ein bundesweit beachteter Eklat. Im Jahr 2012 wurde das Gesetz überarbeitet und der ganz große Zwist beigelegt. Der Stiftung aber wird weiter zur Last gelegt, mit ungleicher Elle zu messen, Gedenken an die DDR-Zeit besser zu fördern, Initiativen zur NS-Epoche ins Leere laufen zu lassen. Als exemplarisch dafür gilt, dass es für das KZ Sachsenburg, das im Mai 1933 in Betrieb ging und also eines der ersten im Dritten Reich war, noch immer keine würdige Gedenkstätte gibt. Statt dessen: der neue Gedenkort auf dem Kaßberg, der als »Tor zur Freiheit« präsentiert wird und zuvor doch auch ein »Tor in den Tod« war. Wiederholt sich die typisch sächsische Gedenkgeschichte?

Vielleicht ja nicht. Im Lichthof des Gefängnisses erklärt Renz, was sein Verein mit dessen einstigem Flügel B plant, dem Trakt, der in Anspielung auf den am Häftlingsfreikauf beteiligten DDR-Anwalt Wolfgang Vogel als »Vogelkäfig« bezeichnet wurde. Zellen sollen originalgetreu restauriert, Räume für Vorträge eingerichtet, Videos gezeigt werden. Dabei soll jede der drei Etagen an jeweils eine der »Repressionsgeschichten« erinnern, sagt Renz. Die unterste ist den Geschäften mit den Gefangenen in den DDR-Jahren gewidmet; das sei das bundesweite »Alleinstellungsmerkmal« eines Gedenkorts Kaßberg, sagt Renz. In Etage zwei geht es um die SBZ-Zeit, in der obersten um die Jahre der NS-Diktatur. Keine der »Repressionsgeschichten«, sagt der Vereinschef, solle vernachlässigt werden.

Darin sieht auch der VVN-BdA eine Gelegenheit. Er hofft, in die Gestaltung der Etage zur NS-Zeit einbezogen zu werden - und eigene Akzente setzen zu können. Während der Knast auf dem Kaßberg in der DDR eine einzigartige Stellung hatte, sei er in der NS-Diktatur »Teil eines umfassenden Terrorapparates« gewesen, »verbunden mit vielen Haftorten und Lagern im gesamten Nazireich«, sagt Hilbert: »Es wäre unser Ziel, diese strukturelle Frage in die Konzeption einzubringen.« Um die reinen Fakten zu untermauern, könne die Vereinigung neben der Expertise ihr nahestehender Historiker auch Kontakt zu den wenigen noch lebenden Zeitzeugen herstellen und Ausstellungsobjekte zur Verfügung stellen: »Es besteht hier die einmalige Chance, einen Gedenkort gemeinsam zu gestalten.«

Unumstritten ist der Kurs nicht; von Seiten eines linken »Freundeskreises Neue Zeit Geschichte« in Chemnitz wird die Mitarbeit des VVN-BdA am Gedenkort, an dem »Faschismus und DDR ›gleichrangig‹« behandelt würden, hart kritisiert. Ob das Unterfangen tatsächlich gelingt, ist offen. Schriftliche und verbindliche Vereinbarungen über eine Kooperation zwischen beiden Seiten gibt es bisher nicht. Im August wollen sich nach Angaben Hilberts beide Vorstände zum Gespräch treffen. Die Zeit drängt. Der Kaßberg-Verein hat kürzlich den Mietvertrag mit dem Eigentümer der Immobilie unterschrieben, die der Freistaat im Jahr 2010 wegen Brandschutzmängeln als Gefängnis außer Betrieb nahm und verkaufte. Das Unternehmen CeGeWo baut auf dem Areal wie auch in Teilen des historischen Knasts Wohnungen; die Arbeiten laufen auf Hochtouren. Bald rücken auch in Flügel B die Arbeiter an. Die Finanzierung für den Umbau sei gesichert, sagt Renz. Die Bundesbeauftragte für Kultur sicherte 1,3 Millionen Euro zu; der Freistaat Sachsen überweist zwei Millionen aus dem Vermögen ehemaliger Parteien und Massenorganisationen der DDR; auch die Stadt Chemnitz gibt Geld. Im Jahr 2022, so hofft Renz, könne die Gedenkstätte eröffnet werden.

Beim VVN-BdA würde man sich wünschen, dass sie dann auch einen fundierten Abschnitt über die Rolle des Gefängnisses in den NS-Jahren enthält. Einen würdigen Gedenkort für die Opfer dieser Jahre gibt es in der drittgrößten sächsischen Stadt seit 1990 nicht mehr. Daran mitzuwirken, »wäre uns lieber, als wenn wir das Ganze nur kritisch von außen begleiten müssten«, sagt Hilbert. Wenn das Vorhaben gelänge, hätte das indes Bedeutung nicht nur für die Stadt, sondern auch für die sächsische Erinnerungspolitik insgesamt: »Es hätte Potenzial für eine Aussöhnung«, sagt Hilbert. Mit dem Knast auf dem Kaßberg verbindet sich also wieder einmal ein Hoffnungsschimmer.

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