• Kultur
  • Medienkritik am Halle-Prozess

Wenn der rechte Terror niemals endet

Die Berichterstattung über den Prozess in Halle ist eine Herausforderung für Journalisten

  • Robert D. Meyer
  • Lesedauer: 3 Min.

Als der Rechtsterrorist Stephan B. am 9. Oktober 2019 versucht, schwer bewaffnet eine Synagoge in Halle (Saale) zu stürmen, will er nicht nur so viele Menschen wie möglich töten. Sein antisemitischer Terroranschlag soll weit über die eigentliche Tat hinaus wirken. Dafür setzt er gezielt auf die Techniken und Logiken der modernen Mediengesellschaft. B. kündigt seine Tat nicht nur kurz vorher in einem Internetforum an, er verbreitet dort auch einen Link zur Videoplattform Twitch, auf der er noch am gleichen Tag 36 Minuten lang live seinen Anschlag überträgt. Tatsächlich sehen ihm »nur« fünf Menschen zu; nach Angaben von Twitch schauten sich etwa 2200 Menschen die Aufnahmen nachträglich an, ehe die Plattformbetreiber eingriffen und das Video sperrten. Da war es aber im Prinzip bereits zu spät. Die Medienstrategie des Neonazis ging auf.

Stephan B. konnte mit hoher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, dass es Zuschauer geben würde, die das Video des Livestreams sichern und wie einen brutalen Gewaltporno im Netz verbreiten. Bis heute sind die Aufnahmen des Terroranschlags relativ leicht zu finden. Die Regel und zugleich Warnung, dass das Internet nichts vergisst, zeigt hier ihre volle Wucht. In einschlägigen Foren lassen sich die unterschiedlichsten Formen der medialen Rezeption beobachten. Während Rassisten und Antisemiten Stephan B. weltweit feiern und insbesondere sein in dem Video propagiertes menschenverachtendes Weltbild unterstützend hervorheben, gibt es ebenso Zuschauer, die in Kommentaren eine zunehmende Entrückung erkennen lassen. Weil sich Stephan B. mit einer Helmkamera filmte, erinnern die Aufnahmen in ihrer Ästhetik auf verstörende Weise an Computerspiele aus der Ego-Perspektive. Nur sterben hier ganz real Menschen und nicht nur virtuell irgendwelche Pixelhaufen.

In den Tagen unmittelbar nach dem neonazistischen Terroranschlag griffen viele Medien auf das Video zurück, zeigten Ausschnitte, zurückhaltendere Redaktionen nur Standbilder. Dass der Boulevard hier kaum Grenzen der eigenen Verantwortung kennt, verwundert nicht, dass sich aber auch die ARD, wenn auch zurückhaltender, an dem Tätervideo bediente, schon eher.

Seine erneute, in diesem Fall nachvollziehbare, Aufmerksamkeit bekam das Video an diesem Mittwoch. Im Verfahren gegen Stephan B. vor dem Magdeburger Landgericht wurde es als Beweismittel gezeigt.

Als wäre dies für Angehörige und Opfer des Rechtsterroristen nicht schon schwer genug zu ertragen, erfahren die Aufnahmen aktuell eine zweite Welle der medialen Verbreitung. Bild.de etwa veröffentlichte einen Videobeitrag, der mit einer Sequenz aus den Terroraufnahmen beginnt, in der Stephan B. auf die Tür der Synagoge schießt.

Überhaupt ist die Boulevardplattform (wieder einmal) das abschreckende Musterbeispiel, wie der Wunsch von Rechtsterrorismus Betroffener nach abwägender, nicht auf den Täter konzentrierten Berichterstattung geflissentlich ignoriert wird. Dabei hatte der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) noch am Mittwoch an die Medien appelliert, »dass Prozessberichterstattung weitaus mehr ist als das ungefilterte und unkommentierte Abspielen von Äußerungen eines Angeklagten«, so DJV-Sprecher Hendrik Zörner. Dem Angeklagten dürfe keine Bühne zur Verbreitung seiner rechtsextremen und antisemitischen Ideologie geboten werden, gleichzeitig müsse aber »wahrhaftig und umfassend« berichtet werden. Und während die »Tagesschau« Stephan B. nur verpixelt zeigt und auf die Nennung seines vollen Namens verzichtet, gibt es Journalisten, die eins zu eins die Äußerungen dieses Nazis fast zeitgleich vom Prozess in Magdeburg über Twitter verbreiten. Der »Focus« und die »Mitteldeutsche Zeitung« begleiten das Verfahren sogar mit einem Liveticker. Ausreichend Raum zur Einordnung in solch einer selbst provozierten publizistischen Drucksituation ist knapp, wäre aber dringend nötig.

Der MDR-Journalist Roland Jäger hat die Strategie des Rechtsterroristen beschrieben: Im Prozess nutze der Angeklagte zur Rechtfertigung seiner Tat rassistische und antisemitische Verschwörungserzählungen, wie sie seit 2015 verstärkt Verbreitung finden. Dies tut er gezielt, um sein rechtsextremes Weltbild zu propagieren. Journalisten sollten ihm nicht dabei helfen. Denn »nur so kann das Attentat wirklich enden«.

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