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Dann lieber eine Tomate

Roy Andersson wollte mit »Über die Unendlichkeit« einen Film über alle Aspekte des menschlichen Lebens machen

»Ich weiß nicht, was ich will«, sagt ein Mann in einem Bus und weint plötzlich. Die anderen Fahrgäste reagieren überhaupt nicht. Der weinende Mann wiederholt seinen Satz. Als sich dann jemand beschwert, sagt ein anderer: »Darf man denn nicht mehr traurig sein?« Die Antwort: »Aber warum kann er nicht einfach zu Hause traurig sein?«

Der Film »Über die Unendlichkeit« von Roy Andersson besteht aus solchen losen Geschichten, die durch Schwarzbilder voneinander getrennt werden. Nur eine weibliche Stimme aus dem Off verbindet die einzelnen Szenen. Die Stimme beschreibt in einem Satz, was zu sehen ist: Jemand schenkt einem Mann in einem Restaurant Wein ein - solange, bis das Glas überläuft. Die Stimme erzählt: »Ich sah einen Mann, der mit seinen Gedanken woanders war.«

Viel wichtiger als das, was erzählt wird, ist jedoch der optische Bildaufbau in »Über die Unendlichkeit«. Die räumliche Anordnung der Figuren und Gegenstände im Bild bekommt so viel Gewicht, dass fast jede Szene wie ein Gemälde wirkt. Hinzu kommt, dass die Menschen am Anfang jeder Sequenz erst einmal einige Sekunden bewegungslos verharren. Dadurch kommen die Abschnitte etwa den Kompositionen von Edward Hopper nahe. »Ich bin oft sehr eifersüchtig auf die Bilder in der Kunst, weil ich das Gefühl habe, dass Filme nicht dieselbe Qualität erreichen können wie die Kunst«, sagte Andersson in einem Interview, »ich möchte wirklich Filme machen, die so ergiebig sein können wie Bilder.«

Allein der Vorspann, der ein schwebendes Paar zeigt, erinnert sofort an die Malerei Marc Chagalls - nur dass Anderssons Paar über das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Köln schwebt und nicht etwa über das bunte Paris. Überhaupt hat das Bunte in Anderssons Werk nichts zu suchen. Ein fahles Blau-Grau-Braun zieht sich durch den ganzen Film, die Menschen haben blasse Gesichter, wirken grotesk, reden theatralisch. Außer einer einzigen Szene wurde der Rest des Films im eigenen Studio gedreht, in dem er seine künstlerischen, teilweise hyperrealistischen Bilder entstehen lässt. 2019 gewann Andersson dafür bei den Filmfestspielen von Venedig, wo »Über die Unendlichkeit« Weltpremiere feierte, den Silbernen Löwen für die Beste Regie.

Es gibt aber nicht nur Bezüge zur Malerei. Die Erzählerin beispielsweise sei von Scheherazade aus »Tausendundeine Nacht« inspiriert, meinte Andersson. Wie bei seinem vorherigen Werk »Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach« (2014) möchte Andersson auch dieses Mal über das Leben filmisch philosophieren. Dabei zeigt er alltägliche, ziemlich banale Situationen im Menschenleben - knapp, überraschend und absurd. Begleitet von seinem besonderen Humor: Zwei Jugendliche sitzen in einem Raum. Der Junge erzählt dem Mädchen, dass laut dem Ersten Hauptsatz der Thermodynamik alles Energie sei. Dass Energie nie zerstört und nur umgewandelt werden könne. »Du bist Energie, ich bin Energie. Und vielleicht ist aus dir in Millionen Jahren eine Kartoffel geworden oder eine Tomate.« Das Mädchen sagt emotionslos: »Dann würde ich lieber eine Tomate sein.«

Der Humor hört erst dann auf, als Andersson versucht, auch historische Momente und große Ereignisse abzudecken. In der Geschichte der Menschheit ist aber viel zu viel Mist passiert - das kann man nicht alles in 78 Minuten reinpacken. Daher begnügt sich der Regisseur halt nur mit Hitler! Und mit zwei Szenen, die sich auf den Zweiten Weltkrieg beziehen - etwa die deutsche Armee, die zu einem Gefangenenlager marschiert.

Andersson scheint einen Film über »alles« machen zu wollen, über ganz große und gleichzeitig ganz banale Themen. Man fragt sich, ob man da unbedingt auch einen Hitler zeigen muss, um dann richtig »alles« behandelt zu haben. Ob Schmerz, Verlust, Leere, Lebenssinn, Angst, Jugend, Enttäuschung, Neid oder Tod nicht gereicht hätten, um dem Werk den Titel »Über die Unendlichkeit« zu geben.

Es gibt eine Szene im Film, die dieses Gesamtbild sehr gut erklärt: Einige Menschen befinden sich in einer Kneipe. Draußen schneit es. »Stille Nacht« ist zu hören. Auf einmal sagt einer: »Ist es nicht trotzdem fantastisch?« Ein anderer fragt: »Was?« Der Mann antwortet: »Alles!«

»Über die Unendlichkeit«: Schweden, Deutschland, Norwegen 2019. Regie und Drehbuch: Roy Andersson. Mit: Martin Serner, Jessica Lothander, Tatjana Delaunay und Anders Hellström. 78 Minuten.

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