Und das Herz schlägt weiter links

Barbara Thalheim über ihr Leben in der DDR, ihre Lieder und eine Sturzgeburt.

Ich habe sie schon immer bewundert, als eine starke, selbstbewusste, emanzipierte, kluge und talentierte Frau, als großartige Chansonnière und mutige Liedermacherin. Ob mit kurzgeschorenen Haaren oder üppiger Lockenmähne, es umgab sie stets eine Aura, der man sich nicht entziehen konnte. Sie hat Charisma. Doch erst jetzt, im persönlichen Gespräch, erfahre ich, dass Barbara Thalheim auch äußerst feinfühlig, verletzlich ist. Das Leben, die Zeit, hat ihr wunderbare Momente geschenkt, aber auch Wunden geschlagen, die nicht alle verheilt sind. In ihren Worten: »Glück und Enttäuschung, Lust, Frust und Wut, Erfolg und Niederlagen sind mir wie Schallplattenrillen in die Seele gebrannt.«

Sie schätzt sich selbst als schüchtern ein, nennt sich scherzhaft »rhythmische Ruferin« und bewundert die »exzellenten Stimmen« von Veronika Fischer und ihrer langjährigen, besten Freundin Aurora Lacasa, mit der sie Anfang der 70er Jahre am »Studio für Unterhaltungskunst« eine musikalische Ausbildung genossen hatte. Schon zu Beginn ihrer Karriere füllt Barbara Thalheim Säle, als sie mit »ihrem« Streichquartett, vier Studenten der Musikhochschule »Hanns Eisler«, durch das kleine Land tingelt, das die Springer-Presse noch mit Gänsefüßchen versieht: »Wir waren blutjung. Wir sangen vor großblumigen Wandtapeten und schmiedeeisernen Raumteilern, unter retuschierten Politikerbildern, vor drapierten Fahnen auf viel zu großen, viel zu hohen Bühnen.« Damals bringt die staatliche Schallplattenfima Amiga ihre erste Single heraus: »Frühling in der Schönhauser«, aufgenommen mit dem Günter-Gollasch-Orchester, am Piano Reinhard Lakomy. Barbara Thalheim steht in den folgenden Jahren mit dem Niederländer Herman van Veen, dem Franzosen Georges Moustaki, dem Österreicher Georg Danzer, mit Erika Pluhar, Hannes Wader, Konstantin Wecker und vielen anderen renommierten Künstlern auf der Bühne. Ab 1994 mit dem Franzosen Jean Pacalet, großartiger Konzert-Akkordeonist und Komponist. Und ihr neuer Lebensgefährte, bis zu dessen Tod vor bald zehn Jahren.

»Ich bin angekommen und nicht angekommen im vereinten Deutschland«, sagt Barbara Thalheim. Sie fühlt sich als eine »Unbehauste«. Am 2. Oktober 1990 verabschiedet sie mit Kollegen im Ostberliner »Prater« die DDR. Titel des Konzerts: »Der letzte macht das Licht aus«. Sie erinnert sich: »Die Stimmung im Prenzlauer Berg unterschied sich sehr von der am Reichstag, wo die offiziellen Feiern stattfanden. Auf dem Kollwitzplatz wurde um Mitternacht die Republik Utopia ausgerufen und wurden Pässe für Bürger dieser Republik verteilt.«

Über Nacht wird sie Bürgerin der Bundesrepublik Deutschland. Sie kann sich nicht richtig freuen, ein undefinierbares Unbehagen beschleicht sie. Sie muss sich zurechtfinden im kapitalistischen Alltag mit überbordender Bürokratie, »schlimmer als bei uns einst«, nervigen Behördengängen und Steuererklärungen. All das, was sie von ihrer eigentlichen Bestimmung abhält. Was ist gewonnen, was verloren? Zwei Jahre nach der Vereinigung wägt sie in »So lebten wir in Zeiten der Stagnation«, verfasst mit dem Vater ihrer beiden Töchter, Fritz-Jochen Kopka, das Gestern und Heute: »Stimmt’s, da waren wir am Arsch/ Und da warn wir geborgen/ Da waren wir Held, da waren wir Clown/ Das Gestern bekannt wie das Morgen/ Die gemütlichen Zeiten der Stagnation.« Sie singt den Menschen im Osten - entlassen, abgewickelt, gewohnter sozialer Sicherheit verlustig und neue Freiheiten noch ungewohnt - aus dem Herzen: »Denkst du noch an die niedlichen Summen/ für Kunst und fürs Essen,/ für Miete und Pacht/ Und da waren die Klugen nicht meistens die Dummen/ die Skrupellosen nicht immer die Macht/ ... Stimmt’s, wir machten uns klein und wir zeigten Größe/ Wir schrien unsern Frust durchs Telefon/ Der Staatspreis war wichtiger nicht als Klöße/ in den Innenräumen der Stagnation.« Sie bleibt sich treu. In der DDR hat sie den Stachel gelöckt, wider selbstgefällige Obrigkeit, gesellschaftliche Missstände, den Missbrauch einer Idee, die auch die ihre war. Nun beklagt sie Gleichgültigkeit, Geldgier, Ungerechtigkeiten, nicht nur hierzulande. »Die Welt zum Heulen/ aber keiner weint ... Es ist die Kälte, die uns eint ... Wer sich bekennt, der hängt am Kreuz zum Spott.«

Nein, nicht alles, vieles war nicht gut in der DDR. Und ja, Barbara Thalheim genoss das Privileg, reisen zu dürfen. Aber: Was heißt Privileg? Weltanschauung kommt von Welt anschauen. Barbara Thalheim resümiert: »Ich ging davon aus, dass es meine Kunst war, die mich privilegierte.« Und doch war es ein stetiges Bitten und Betteln.

Im November 1980 wird ihr mitgeteilt, dass eine lange vorbereitete Tournee durch die Bundesrepublik abgesagt wurde. Wegen der »augenblicklich besonders komplizierten Situation zwischen den beiden deutschen Staaten«. Bonn soll zur Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft genötigt werden. Barbara Thalheim fragt: »Ja, und was haben meine Lieder damit zu tun?« Und welchen Wert haben Verträge, wenn sie erpresst werden? Vergebens. Ihre Westberliner Managerin wird per Telegramm von der zuständigen DDR-Künstleragentur über die Köpfe der Musiker hinweg informiert. Enttäuscht erklärt Barbara Thalheim, erst zwei Jahre Mitglied der SED, ihren Austritt aus der Partei. Und »fällt aus allen Wolken«, als sie drei Tage später in der ARD-Tagesschau erfährt: »Die DDR hat nach Angaben der Ostberliner Chansonsängerin Barbara Thalheim seit Ende vergangener Woche einen Ausreisestopp für Künstler verhängt, die zu Gastspielen in die Bundesrepublik oder nach Westberlin reisen wollten.« Sie wird ins ZK bestellt, muss eine Standpauke von Kurt Hager über sich ergehen lassen: »Und das bei deinen Vater!« Sie ist die Tochter eines Kommunisten, der im deutsch-faschistisch okkupierten Frankreich verhaftet und in die Hölle von Dachau verschleppt worden war. In ihrem Elternhaus sind Freunde aus Frankreich ein- und ausgegangen; mitunter war die Teenagerin eifersüchtig, ihren Vater mit den Kameraden aus der Résistance teilen zu müssen. Erst Jahre nach seinem Tod 1994 stößt sie auf dessen unveröffentlichte Memoiren im Bundesarchiv. Anderthalb Dezennien zuvor hatte sie seiner Generation mit dem »Höhlenlied« Ehre erwiesen: »Unsere Eltern sind die letzten Helden gewesen/ Sie haben gehungert, Broschüren gelesen... Sie wurden verstoßen, vergessen, umworben... Die Herzen geöffnet, die Seelen vermint/ Ihre Schuld war klein, ihre Kraft war groß/ Ihr Leben ging erst nach dem Ende los.« Ihr schien im Vergleich zu deren dramatischen Lebenswegen, Kämpfen und Visionen »alles so klein«, was in der DDR geschah und was man selbst tat.

Barbara Thalheim verteidigt sich trotzig gegenüber Ideologiechef Hager: »Ich will mit meinen Liedern Barrieren niederreißen.« Sie darf schließlich doch »rüber«, die restlichen Tourneetermine noch wahrnehmen. Nach ihrer Rückkehr aber wird sie aus der SED ausgeschlossen. Obwohl sie schon selbst ausgetreten ist. Die Exkommunizierung behalten sich die Genossen vor. Es hagelt Konzertabsagen: »Ich fiel in ein tiefes Loch.«

Doch Barbara Thalheim rappelt sich auf, kämpft. Drei Jahre darauf entsteht mit einer neuen Band ein neues Programm: »In der Nacht, in der Macht, in der Not ist der Mensch nicht gern alleine«. Die Menschen sind dankbar für ihre offenen Worte und Lieder, wie etwa »Hoher Besuch«: »Gestern kam der Staat bei mir vorbei: Ob ich auch zufrieden und so weiter sei/ Ich wusste gar nicht, was ich sagen soll … Ich fragte, ob er selbst zufrieden sei.« Unerhörte Sätze, Bekenntnis und Verlangen: »Ich will auch irren dürfen./ Seitenwege gehen./ Die Zukunft träumen und den blausten Süden sehn …/ Du hegst die Braven und ihr permanentes Ja,/ Die Nachplapperer sind bei dir ganz dicke da,/ die wilden Denker, Sucher, sind dir gar nicht recht.«

1985 bestreitet sie 180 Konzerte republikweit. Als höhere Weihen empfindet sie eine Einladung in die Akademie der Künste. »Dienst nach Vorschrift« klagt die Entmündigung und Gängelung der Bürger durch den Staat an. »Die Reaktionen des Publikums von Blankenburg bis Wernigerode waren euphorisch«, freut sie sich noch heute. Die staatliche Nachrichtenagentur ADN vermerkt indes nur lakonisch: »Und so sang sie an gegen herzloses Verhalten und Spießertum.«

Unmut und Unruhe im Volk und unter den Künstlern mehren und entladen sich im Herbst 1989. Liedermacher und Rocksänger der DDR verfassen eine Resolution. Auch Barbara Thalheim verliest diese vor ihren Konzerten: »Die Partei- und Staatsführung bagatellisiert die vorhandenen Widersprüche. Es geht nicht um Reformen, die den Sozialismus abschaffen, sondern um Reformen, die den Sozialismus weiterhin möglich machen.« Am 40. Jahrestag der Republik, am 7. Oktober, erlebt sie in Dresden brutale Gewalt. Unvergessen ist ihr die friedliche Großkundgebung am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz. Fünf Tage darauf, am 9. November, sitzt sie in Wien in einer Talkshow des ORF mit dem orakelnden Titel »Wenn die Mauer fällt«. Während sie noch mit den anderen Gästen spätabends darüber in der »Käseglocke« eines Fernsehstudios sinniert, ist die Mauer in Berlin schon überwunden.

Wer ahnt da, dass gerade erst aufgestoßene Türen und Fenster sich bald wieder schließen werden, neue Mauern emporwachsen? »Auferstanden aus den Dogmen und dem Leben zugewandt«, eine Adaption der DDR-Nationalhymne, trägt Barbara Thalheim nun landauf, landab vor, bis zum März 1990 über hundert Mal. »Unsere Not war die des Denkens/ Und die Not der Mauern auch./ War die Not der stets Gelenkten/ Leeres Herz und voller Bauch. Wenn wir brüderlich uns einen/ Bleiben wir doch, wer wir sind,/ Bleiben wir auf eignen Beinen/ Und das Herz schlägt weiter links.«

Barbara Thalheim erinnert sich: »Immer wenn ich es sang, hatte nicht nur ich Tränen in den Augen.« Es kommt alles anders als erhofft. Schmerzhafter noch als alle Enttäuschungen und fatalen Folgen nach der Sturzgeburt »Einheit«, dem abrupten Abbruch eines Aufbruchs, war der Verlust von Freunden, von denen sie annahm, dass sie »aufrichtige Linke« wären. »Sie wurden, was sie zu DDR-Zeiten nie gewesen sind, angepasste Mitläufer.«

1992 tourt Barbara Thalheim mit der Rockband Pankow durch Deutschland. Sie nimmt als letzte DDR-Künstlerin in einem Tonstudio des bereits in Abwicklung befindlichen VEB Deutsche Schallplatten noch eine Amiga-Platte auf: »Das Ende der Märchen«. Vereinigungseuphorie weicht im Osten zunehmend Frust. Die Sturzgeburt Einheit wirft neue Gräben auf. Zur inneren Zerrissenheit des Landes trägt die Stasi-Hysterie bei. Die trifft auch Barbara Thalheim. Dabei hat sie selbst einen Journalisten, Karl-Heinz-Baum vom Berliner Büro der »Frankfurter Rundschau«, gebeten, nach ihrer Akte zu suchen. Mit 17 war sie in den Fokus der Staatssicherheit geraten; die familiären Koordinaten für eine Anwerbung schienen zu passen. Ein IM-Vorlauf wurde angelegt, den sie ohne Arg unterschrieb. Dann schläft der Kontakt ein. Vier Jahre später, nach ihrem SED-Ausschluss, wird die »Zusammenarbeit« eingestellt. Die Liedermacherin fällt nunmehr in die Rubrik »Operative Personenkontrolle«, heißt: Verdacht auf »feindlich-negative Handlungen«.

Täterin oder Opfer? Nach Aktenlage, nach Erkenntnis des Journalisten von der »Frankfurter Rundschau« und Bestätigung von Musikerkollegen hat sie niemanden verraten, niemanden ins Gefängnis gebracht, vielmehr über die Kulturpolitik der DDR geschimpft. Trotzdem meint 2017 eine Redakteurin der »Berliner Zeitung«, die Verdächtigungen und entkräfteten Vorwürfe noch einmal aufwärmen zu müssen. Um sich zu profilieren. Barbara Thalheim ersucht nach der Veröffentlichung des von ihr nicht autorisierten Textes um ein klärendes Gespräch in der Redaktion. »Es ging aus wie das Hornberger Schießen.« Ich spüre ihre innere Erregtheit noch heute. »Die Dame wusste nichts von mir. Sie kannte kein einziges Lied. Meine Akte, nicht von mir angelegt, ohne Schriftstücke von mir, war das Gerüst, an dem sich ihre Fragen entlang hangelten.«

Heiner Müller sagte einmal: »Ein Kadaver kann seinem Obduktionsbefund nicht widersprechen. Der Blick auf die DDR ist von einer Sichtblende verstellt, die gebraucht wird, um Lücken der eigenen ›moralischen Totalität‹ zu schließen.« Ein wahrlich weiser Mann.

Barbara Thalheim kann stolz sein. Sie hat 20 Tonträger veröffentlicht, ein Dutzend Bühnenprogramme gestaltet. »Wer darf sich anmaßen, über andere Leben zu urteilen?«, fragt sie. Und ist überzeugt: »Vereinigung funktioniert nur mit dem Rucksack bisher gelebten Lebens, mit allen Widersprüchen und Irrtümern. Die eigene Identität ist nicht unbedingt das, was andere dafür halten.« Günter Gaus, ein guter Freund, hat sie zu trösten versucht: »Warte ab, bis die BND-Akten veröffentlicht werden.« Sind sie bis heute nicht.

1995 gab Barbara Thalheim mit »Abgesang« ihren Bühnenabschied, den sie glücklicherweise drei Jahre darauf widerrief. Und so singt sie noch heute. Ihr neues Programm, »NOVEMBERblues«, befasst sich mit einem ambivalenten Datum deutscher Geschichte, dem 9. November 1848, 1918, 1923, 1938, 1939 - und 1989. Das letzte Lied, im Stil eines Bänkelgesangs und im Berliner Dialekt, wird Barbara Thalheim allein, ohne ihre großartigen Musiker, vortragen: »Jeda jehört zu ne Minderheit, ob Mann, ob Frau, ob Kind, ob Maus ...« Ja, jeder und jede ist besonders.

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