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(K)ein Unterschied: Ost-Kindsmörderin

Die tötende Mutter wird medial besonders dann aufgebauscht, wenn sie aus dem Osten kommt.

Wenn es um Gleichberechtigung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und selbstbestimmte Familienplanung geht, wird der DDR meist eine progressive Politik zugeschrieben. Im öffentlich-medialen Diskurs über Mütter, die ihre Kinder töten, scheint es hingegen genau diese ostdeutsche Sozialisierung zu sein, die problematisiert und als Erklärung für das Handeln der Frauen in den neuen Bundesländern herangezogen wird.

Die Kulturwissenschaftlerin Kathleen Heft hat zu diesem Thema promoviert. Auffällig sei, dass Anfang und Mitte der 2000er Jahre über ostdeutsche Frauen, die ihre Kinder getötet haben, anders berichtet wurde als über Mütter im Westen der Republik. »Es wurde nicht gefragt, ob diese Frauen gesund oder krank sind und welche Umstände dazu geführt haben. Stattdessen wurden Fragen nach Kultur und Gesellschaft der DDR gestellt und überlegt, was an Kindstötungen typisch ostdeutsch sein könnte.«

Prominent wurden Äußerungen des CDU-Politikers Wolfgang Böhmer. Der ehemalige Ministerpräsident Sachsen-Anhalts hatte einen direkten Zusammenhang zwischen der Tötung von Neugeborenen und Kleinkindern im Osten und der liberalen Abtreibungsgesetzgebung der DDR behauptet. Im Interview mit dem »Focus« sprach Böhmer 2008 sogar von einem »Mittel der Familienplanung«. Das sei, so Heft, für Fälle von Kindstötung im Westen Deutschlands nie passiert. »Das kann ich guten Gewissens sagen. Kindstötungen im Westen werden immer als Einzelfall dargestellt, der wissenschaftlich, kriminologisch und psychologisch betrachtet werden muss. Man fragt aber nicht, was die Gesellschaft damit zu tun hat.«

Eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen kam 2010 zu dem Schluss, dass im Osten Deutschlands drei- bis viermal so oft Kinder von ihren Eltern getötet werden als im Westen. Eine Untersuchung der Universität Leipzig konnte hingegen keine Belege für eine solche Differenz finden. Obwohl Kindstötungen kein besonders verbreitetes Phänomen seien, hätte man Kindsmörderinnen als besonders problematisch und gefährlich aufgebauscht, meint Heft. »Mit oft sehr viel Medienspektakel.« In den 2000er Jahren sei das Problem medial, aber auch politisch in den Osten verlagert worden. »Ein Mechanismus, um die vereinte Bundesrepublik davon reinzuwaschen«, meint die Kulturwissenschaftlerin. Damit sei man in der Lage zu sagen, Mütter die ihre Kinder töten, gehören eigentlich nicht zu »uns«, nicht zu dem, was im heutigen bundesdeutschen Selbstverständnis als normal und wünschenswert gilt. »Eine andere Variante dieses Mechanismus ist die Verschiebung problematischer Phänomene nach zum Beispiel Indien oder China. In Europa gilt das dann als Ausnahme, aber niemals als kulturell verankert.«

Ein Mechanismus, den Heft auch als »Ossifizierung« beschreibt: Die sei dann am Werk, wenn als problematisch wahrgenommene Ereignisse, mit denen wir uns im heutigen Deutschland auseinandersetzen müssen, als genuin ostdeutsche Phänomene behandelt werden. Das gelte neben der Kindstötung auch für Rechtspopulismus und -extremismus. »Die Sachen werden ausgelagert, das sind ›die Anderen‹, die das machen. Der Westen wird als Standard gesetzt, und der Osten ist immer die Abweichung.« Diese könne negativ wahrgenommen werden, aber auch positiv: »Der Osten als Avantgarde«, so Heft in Anlehnung an ein Zitat des Publizisten Wolfgang Engler. Diese Ossifizierung erschwere es, Probleme, die es zwar im Osten gibt, aber die auch Teil des heutigen Deutschlands sind, richtig anzugehen, meint Heft.

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