Verschleppt vor den Augen der Öffentlichkeit

Ein sogenannter Audiowalk erinnert an die Wege von Berliner Jüdinnen und Juden nach Moabit - und von da aus in den Tod

  • Anna Kücking
  • Lesedauer: 4 Min.

Fast auf den Tag genau vor 79 Jahren, am 18. Oktober 1941, begann die systematische Deportation von rund 32 000 Berliner Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten. Vom Güterbahnhof Moabit wurden sie in die Konzentrationslager und Ghettos der von den Deutschen besetzen Gebiete in Osteuropa, wie Riga, Theresienstadt oder Auschwitz verschleppt. Ein Fußweg von zwei Kilometern, der etwa eine Stunde dauert, führte rund 1900 in Moabit lebende Jüdinnen und Juden von der als Sammellager umfunktionierten Synagoge an der Levetzowstraße mitten durch den Berliner Alltag zur Turmstraße, wo sich schon damals Geschäft an Geschäft drängte, vorbei an Passantinnen und Passanten und Gotteshäusern.

Dieser Weg stehe exemplarisch für ein ganzes Netz aus Wegen, die Jüdinnen und Juden zu Deportationsbahnhöfen laufen mussten, sagt Martin Rudrick von der Initiative »Ihr letzter Weg«, die gemeinsam mit dem Verein »Sie waren Nachbarn« diese Wege sichtbar machen will. Dafür haben sie einen Audiowalk - eine Art akustischer Dokumentation - veröffentlicht, der seit diesem Sonntag kostenlos auf der Webseite der Initiative zur Verfügung steht. Interessierte können ihn sich auf ihr Smartphone herunterladen und die Wege nachgehen. Ende der 90er Jahre hatten die Freie Universität und der Senat in einer Publikation Zeitzeugenberichte zusammengetragen, um die Deportationen und damit verknüpfte Erlebnisse von Jüdinnen und Juden zu dokumentieren. Im heutigen Stadtbild erinnert kaum etwas an diese Wege. Das soll mit dem Audiowalk geändert werden, der auf den Zeitzeugenberichten basiert. In einem Ideenwettbewerb wird derzeit über künstlerische Ausgestaltungen in Form dauerhafter Kennzeichnungen der Wege nachgedacht.

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Joel König, der sich damals im Hansaviertel versteckt hielt, erzählt im Audiowalk, dass Tausende die Deportationen gesehen haben müssen: »Die Levetzow-Synagoge lag an einer stark belebten Straßenkreuzung, gerade neben dem Postamt NW 87. Bei aller geschäftigen Eile konnte den Berlinern nicht entgehen, dass sich die Berliner Juden, jung und alt, in das Gotteshaus schleppten, beladen mit Rucksäcken und Handgepäck. Als ich mich später aus meinem Versteck herauswagte, sah ich mit eigenen Augen, dass sie, die Berliner, es sahen.« Ein Mahnmal, bestehend aus einer in Stein gehauenen Gruppe von Gefangenen auf einer Rampe auf dem Weg in einen Eisenbahnwaggon, erinnert heute an der Levetzowstraße an die Verbrechen.

Die Synagoge war eine von vielen in Moabit und dem Hansaviertel. Ein beliebter Ort mit Gemeindezentrum, Wohnungen und einer Religionsschule. Der Audiowalk beschreibt die diversen Architekturen der Synagogen, erzählt von unterschiedlichen Milieus und verdeutlicht so die Vielfältigkeit jüdischer Lebensweisen vor dem Krieg. Während das Oktoberwetter sich von seiner ungemütlichen Seite zeigt, Autos vorbeifahren und Menschen unter Markisen Unterschlupf suchen, dringen individuelle Erfahrungsberichte ins Ohr, die stimmlich von den informativen Passagen abgesetzt werden und sich mit der heutigen Umgebung vermischen.

Gesprochen werden sie etwa von der Schriftstellerin Lea Streisand und dem Liedermacher Reinhard May. Wer die Geschichten nicht-jüdischer Berlinerinnen und Berliner hört, begreift, dass die Behauptung, man habe nichts tun können, nicht stimmt: »Den Juden zu helfen, war manchmal die einzige Art, auf die ein Deutscher den Nazis gegenüber seine Opposition auszudrücken vermochte«, wird Rabbiner Leo Baeck zitiert. Man hört die Geschichte von Therese und Elias Hirsch, die eine auf Donuts spezialisierte Bäckerei an der Jagowstraße besaßen, bevor ihnen, nach der Verschleppung von Elias in das Konzentrationslager Buchenwald, die Flucht nach Kolumbien gelang.

Andere Jüdinnen und Juden gingen in den Untergrund. »Eine Reihe von Bedingungen mussten erfüllt sein: Dazu gehörten neben viel Glück starke Nerven, die Fähigkeit, unter Stress und Druck schnell die richtigen Entscheidungen zu treffen sowie Schlagfertigkeit und Mut«, heißt es. Anders als in Gedenkstätten oder Museen stellt der Audiowalk die lebensweltliche Dimension der NS-Verbrechen aus. Die geschaffene Gleichzeitigkeit von gegenwärtiger Umgebung und erzählter Geschichte ist dabei ein wirksames Mittel, das einen mit der unbequemen Frage zurücklässt, von welchen Ereignissen man seinen Blick wohl derzeit abwendet.

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