Wann bin ich, wo bin ich, was bin ich?

Szczepan Twardochs Roman «Das schwarze Königreich erzählt vom Warschauer Ghetto

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 4 Min.

Sehr dunkel fängt er an, der Roman »Das schwarze Königreich«: »An dunklen Tagen ducke ich mich in mein Loch, grau wie die Wände der mich bergenden Höhlen, gehe in der dunklen Nacht auf Beutezug, die Fleischreste abkratzen vom Skelett der toten Stadt, ihr hartgefrorenes Aas benagen.«

Der apokalyptische Ton zieht den Leser in den Roman »Das schwarze Königreich« von Sczcepan Twardoch. der im Warschauer Ghetto spielt, in das die Deutschen im Zweiten Weltkrieg mehrere Hundertausend Juden eingepfercht haben. Ryfka ist eine von ihnen, will überleben, will, dass auch Jakub überlebt, der regungslos in ihrem Versteck liegt, in dass sie sich nach der Räumung des Ghettos zurückgezogen hat. Der ehemalige Boxer und Schrecken der Warschauer Unterwelt ist nur noch eine Hülle, ein Schatten seiner selbst. Doch Ryfka verehrt ihn immer noch: »Einen bösen Menschen habe ich geliebt, mein ganzes Leben.«

Jakub war schon die Hauptfigur in Twardochs Roman »Der Boxer« (2019), der im Vorkriegs-Warschau spielt und dessen Aufstieg in der Unterwelt schildert. Nun ist sein Sohn David der zweite Erzähler in »Das schwarze Königreich«. David und sein Zwillingsbruder Daniel wachsen anders als ihr Vater in wohlhabenden und behüteten Verhältnissen auf. Denn Jakub Shapiro hatte, um seinem Leben einen bürgerlichen Anstrich zu geben, Ende der 1920er Jahre Emilia geheiratet, die Tochter eines Warschauer Rechtsanwalts. Doch Emilia hat Jakub Anfang des Krieges zusammen mit ihren Söhnen verlassen. Shapiro war zu Ryfka gezogen, der Bordellbesitzerin aus der Zeit der Boxkämpfe und der Schutzgelderpressungen, seine erste große Liebe. Danach verlor er allen Lebensmut.

Twardochs Hauptfiguren eint die Rolle des allwissenden Erzählers. »Hiermals« ist das Wort, das diesen zeitlich unbestimmten Zustand, das Nicht-Vergehen des Vergangenen, beschreiben soll. »Ich weiß nicht, wann hiermals ist«, sagt David. »Ich weiß nicht, wann ich bin und wo ich bin und was ich bin. Ich habe nur Gedächtnis und Wissen, bin in einem Grau, das ich selbst nicht sehe, denn ich habe weder Augen noch Ohren, auch keinen Leib, ich habe nur die Erinnerung, ich bin Erinnerung. Weder Dunkelheit noch Licht ist es, was mich umgibt, auch kein Ort.« Doch dem Leser fällt es schwer, die Allwissenheit des einen Erzählers auf zwei zu verteilen. Warum weiß Ryfka alles über die Vergangenheit eines deutschen Deserteurs, aber nichts über das Schicksal von Jakubs Frau Emilia und seinen Söhnen?

Alle sind sie Juden: Jakub, Ryfka, Emilia und ihre Kinder. Alle werden mit der deutschen Besatzung entrechtet, allen droht Deportation in die Todeslager. Twardoch beschreibt das dunkelste Kapitel der polnischen Geschichte, und er beschreibt es ohne Rücksicht auf die derzeitige geschichtsklitternde Kulturpolitik der PiS-Regierung. Die Deutschen sind die klare Ursache der Katastrophe, aber der polnische Antisemitismus macht viele Polen unter der Besatzung zu Mittätern.

Zwar hat Szczepan Twardoch in Gesprächen und Interviews immer wieder betont, seine historischen Romane hätten nichts mit der Gegenwart zu tun, doch genau diesen Bezug wird der Leser zum Beispiel bei der Diskussion der Identitätsfrage herstellen. »Selbst die Worte Jude, Pole, Deutscher«, sagt Ryfka, »schienen Wirkliches zu benennen. Dabei gibt es weder Polen noch Juden jenseits dieser von Menschen getroffenen Übereinkunft, jemanden für einen Polen oder einen Juden zu halten, abgesehen von der flüchtigen, statistisch schwachen Korrelation zwischen Genen und einer keineswegs stabilen Kultur.«

Leider bleibt Ryfkas Einsicht, dass Jakub ein »böser Mensch« sei, bis zum Ende des Romans unverständlich, wenn man nicht die Vorgeschichte aus »Der Boxer« kennt. Das Böse wird hier, wie auch an anderen Stellen, nur behauptet und nicht erzählt.

Störend ist auch Twardochs Faible für Markennamen von Uhren, Autos, Flugzeugen und Waffen; hier wirkt der Roman wie ein überkorrekter Ausstattungsfilm. Und bei der detaillierten Schilderung von zerfetzten Körperteilen gehen einem sofort die stereotypen Bilder der letzten Krimis und Thriller durch den Kopf. Twardochs Absicht, die barbarische Zeit der deutschen Besetzung Polens historisch adäquat, mit all ihren Widersprüchen, wiederzugeben, ist lobenswert; literarisch aber ist ihm das leider nicht gelungen.

Szczepan Twardoch: Das schwarze Königreich. A. d. Poln. v. Olaf Kühl. Rowohlt, 416 S., geb., 24 €.

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