Zeugnisse der Shoah

Erstmals in deutscher Übersetzung erschienen: die Zeitschrift »Fun letstn churbn«

  • Ernst Reuß
  • Lesedauer: 3 Min.

Schon kurz nach ihrer Befreiung hatten sich jüdische Überlebende des Holocaust in lokalen Gruppen zusammengeschlossen. Damals wurden die von den Nazis aus aller Herren Länder verschleppten Menschen von den Alliierten in speziellen Camps für sogenannte Displaced Persons (DP) zusammengeführt, um »repatriiert« zu werden. Nicht wenige organisierten sich im »Zentralkomitee der befreiten Juden in der amerikanischen Zone« mit Sitz in München. Deren Historische Kommission unter ihrem Leiter Moshe Feygenboym sammelte authentische Berichte, Briefe, Tagebücher, aber auch Witze, Gerüchte, Lieder und Anekdoten aus den Ghettos und Lagern, die vom Überlebenswillen wie der Verzweiflung der von fanatischen deutschen Antisemiten verfolgten Menschen zeugen.

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Frank Beer/Markus Roth (Hg.): Von der letzten Zerstörung. Die Zeitschrift »Fun letstn churbn«.
A. d. Jidd. v. Susan Hiep, Sophie Lichtenstein u. Daniel Wartenberg. Metropol, 1032 S., geb., 49 €. •

Es gab Aufrufe, Fragebögen und Aufsatzwettbewerbe, mit denen die Überlebenden motiviert werden sollten, ihre Erfahrungen und Erlebnisse für die Nachgeborenen festzuhalten. Ein Plakat appellierte: »Jude! Erfülle Deine Pflicht gegenüber den kommenden Generationen. Berichte der Historischen Kommission von Deinem Überleben der Konzentrationslager, im Versteck, über das Leben der Partisanen, so dass Deine Kinder den Weg Deines Martyriums kennen werden.«

Der Holocaust sollte nicht nur von den alliierten Siegern über den Hitlerfaschismus, sondern auch aus Opferperspektive dokumentiert werden. Das gesammeltes Material wurde ab 1946 in der jiddischsprachigen Zeitschrift »Fun letstn churbn« (Von der letzten Zerstörung) veröffentlicht. Israel Kaplan, selbst ein Überlebender, und seine Mitstreiter klärten nicht nur über den Terror des Hitlerregimes auf, sondern würdigten zugleich explizit jüdischen Widerstand.

Der Schwerpunkt der Berichte lag auf den deutsch besetzten Gebieten Osteuropas. Insgesamt erschienen bis 1948 zehn Ausgaben. Dass die Zeitschrift nicht reißenden Absatz und weite Verbreitung fand, lag wohl daran, dass die Menschen damals, auch die Opfer, vorwärts und nicht rückwärts blicken wollten und konnten. Alle plagten existenzielle Sorgen. Zudem begrenzte die Sprache der Publikation den Leserkreis.

Mehr als 70 Jahre mussten vergehen, ehe diese Zeitschrift, selbst ein wertvolles historisches Zeugnis, auf Deutsch übersetzt einer breiteren Öffentlichkeit nahegebracht wird. In »Fun letstn churbn« sind auch erschütternde Fotografien abgedruckt, die das Grauen, den Terror, das Sterben unter deutscher Okkupation anklagen - weitgehend unbekannte von Deportationen, Massakern und vom Alltag in den Ghettos. Das letzte Foto des polnischen Malers Maurycy Trębacz, aufgenommen kurz vor seinem Hungertod im Ghetto Litzmannstadt im Januar 1941, zeigt einen Menschen, der nur noch wenig gemein hatte mit dem vor Kraft strotzenden Mann auf Vorkriegsfotos.

Besonders erschütternd auch die Berichte aus dem Vernichtungslager Sobibór, Ort eines heroischen Aufstands und verzweifelten Ausbruchversuchs im Oktober 1943, oder vom Massaker an 45 Kindern im Alter von 15 Monaten bis 15 Jahren in Kielce, verübt von Einheiten der deutschen Ordnungspolizei am 23. Mai 1943.

Als die DP-Camps aufgelöst wurden, stellte auch die Historische Kommission im Januar 1949 ihre Arbeit ein. Deren Sammlung wurde später nach Israel geschickt und wird heute in der Forschungs- und Gedenkstätte Yad Vashem verwahrt. Die Bestände blieben auch dort viele Jahre nahezu unberührt, da nicht viele Historiker über jiddische Sprachkenntnisse verfügen.

Umso wichtiger, dass diese einzigartigen Zeitzeugnisse durch die Übersetzung endlich der Forschung und Publizistik leichter zugänglich sind. Wünschenswert wäre es, wenn einige Inhalte der »Fun letstn churbn« noch für eine populäre und preiswertere Publikation und damit für einen breiteren Leserkreis zusammengestellt werden.

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