Schafft ein, zwei, viele Kommunen!

Detlef Hartmann und Christopher Wimmer schreiben über frühe revolutionäre Selbstorganisation

  • Lesedauer: 8 Min.

Einleitung

Die Autoren und ihr Buch

Schon vor der Pariser Kommune 1871 entwickelten sich aufständische Bewegungen. So streikten Arbeiter*innen der Stahlfabrik Schneider in Le Creusot und riefen die »Industrie-Kommune« aus. Einer ihrer Sprecher war Adolphe Assi, der seine Erfahrungen später in die Pariser Kommune einbringen sollte. Auch andernorts kam es zu Erhebungen und wurden »Kommunen« ausgerufen.

Die Provinz hatte schon eine oder gar zwei revolutionäre Phasen erlebt, die lange Zeit fast völlig vernachlässigt worden waren. Die Autoren legen sozialrevolutionäre Spuren frei und bezeichnen mit Kommune nicht die Pariser Regierungsform, sondern Prozesse der Selbstorganisation, die sich schon in den sozialen Kämpfen der 1860er Jahre finden lassen.

Detlef Hartmann, geb. 1941, ist seit Ende der 1960er aktiv in sozialen Kämpfen, in offener Gegnerschaft zu formellen Parteibildungen, marxistischer Orthodoxie und erfahrungsfreier wissenschaftlicher Erkenntnis. Als Anwalt engagierte er sich in Köln vor allem im Kampf gegen Verdrängung, Psychiatrie und in der Ausländerpolitik. Einst Mitarbeiter der Zeitschrift Autonomie, ist Hartmann heute Mitglied im Redaktionskollektiv der Materialien für einen neuen Antiimperialismus.

Christopher Wimmer, geb. 1989, arbeitet in Berlin als Soziologe und beschäftigt sich mit Klassenpolitik und Feminismus. Er schreibt regelmäßig zu Digitalisierung, linker Geschichte, Theorie und Aktivismus.

Wenn im historischen Sinn von der »Kommune« die Rede ist, verstehen die meisten darunter lediglich die Kommune von Paris, die von den Geschehnissen des 18. März 1871 angestoßen wurde. Ihr galt das Interesse der linken Intelligenz und Geschichtsschreibung. Später wurde die Pariser Kommune von bolschewistischer oder staatssozialistischer Seite mit ihrer systemisch bedingten Überbetonung der Kaderstrukturen als Vorläuferin des »roten Oktobers« 1917 angesehen und vereinnahmt. Vorausgehende Bewegungen in der französischen Provinz wurden demgegenüber kaum wahrgenommen, und wenn überhaupt, als mehr oder weniger vernachlässigbares Vorspiel betrachtet. Mit dem vorliegenden Buch wollen wir dieses Bild korrigieren. Denn als die Pariser Kommune am 28. März 1871 ausgerufen wurde, hatten die französischen Provinzen bereits eine oder sogar zwei revolutionäre Phasen erlebt, wie die Historikerin und Widerstandskämpferin der Résistance Jeanne Gaillard schrieb. Noch vor den revolutionären Initiativen in der Hauptstadt waren die Provinzen in Aufruhr. Aus autonomen proletarischen Bewegungen heraus wurden in rund einem Dutzend französischer Orte Kommunen ausgerufen. Dieser Kommunebewegung der Jahre 1870/71 gilt unser Interesse.

Eine umfassende Erinnerungsliteratur beleuchtet die Pariser Vorkommnisse nach dem 18. März 1871. Doch erst ab den 1950er Jahren erwachte auch das Interesse an den Bewegungen in den Provinzen und die ersten Monographien erschienen - zu spät allerdings, um noch Zeitzeug*innen befragen zu können. Leider. Denn diese wären nötig gewesen, um das autonom aus den Aktivitäten der beteiligten Menschen heraus gestaltete Geschehen plastisch nachzuzeichnen. Aktivitäten, die sich nicht nur gegen das französische Kaisertum und die Bourgeoisie richteten, sondern auch gegen das erstickende Kommando des Pariser Zentralismus und das Vordringen der kapitalistischen Produktionsweise in alle Lebensbereiche.

Somit sind wir auf eine nachträgliche Spurensuche verwiesen. Sie gilt nicht nur den öffentlichen Manifestationen und Dokumenten der Kommunen, sondern richtet sich darüber hinaus auf das, was Bewegungen erst hervorbringt und antreibt und sich nicht ausschließlich über Begriffe der politischen Ökonomie fassen lässt: Bewegungen haben ihren Ursprung und Grund in den alltäglichen Auseinandersetzungen der Menschen mit der Gewalt des Kapitalismus. Sie verwirklichen sich aus den sozialen Zusammenhängen und Beziehungen heraus. Aus der tagtäglichen Kommunikation der Frauen und Männer. Doch wir haben leider nur wenige Erkenntnisse zu der genauen Art und Weise, in der sich die Menschen aus den Familien, Nachbarschaften sowie Arbeits- und Freundschaftsbeziehungen heraus organisiert haben, jenseits des Wissens darüber, wo Revolten immer ihren Ursprung hatten und haben: in den Arbeitsstätten, auf der Straße, in den Kneipen, Bars, Cafés und anderen sozialen Orten. La rue (die Straße) ist die pauschale Vokabel, mit der die Literatur dieses Geschehen benennt. Die Kommune, das war im Sprachgebrauch der damaligen Zeit der zur Macht gekommene Pöbel. Wenn in der bürgerlichen Presse von den Kommunard*innen geschrieben wurde, dann war die Rede vom »Abschaum«, den »Barbaren«, den »Blutmenschen« und »Dämonen«, den »Mordbrennern«, »Ungeheuern « und »Teufeln«. Die Kommune war in den Augen der bürgerlichen Welt nichts weiter als eine bewaffnete Insurrektion, die es so schnell wie nur irgend möglich im Interesse der Sicherung des eigenen Besitzstandes und der damit verbundenen Ordnung mit Stumpf und Stiel auszutilgen galt. Dies scheint - vorrangig für die Provinzen und die Beziehungen der Menschen - geglückt zu sein. Auf la rue sind die Spuren inzwischen verweht.

Wir […] versuchen, der Kommunebewegung in den Provinzen 1870/71 mit Hilfe der erhalten gebliebenen Berichte der Beteiligten über die sozialen Kämpfe so nahe wie möglich zu kommen. So etwa im südfranzösischen Lyon. Dort riefen die Arbeiter*innen am 4. September 1870 aus einem sich dramatisch zuspitzenden Streikgeschehen heraus autonom die Kommune aus. Schon im März 1870 hatten Arbeiter*innen im Stahlwerk Schneider-Creusot in Le Creusot, einer Stadt zwischen Lyon und Paris, einen gewaltigen Streik entfesselt. Mit 10 000 Beschäftigten war es die größte Fabrik Frankreichs und eine der modernsten Europas. Sie gehörte zu den Speerspitzen der kapitalistischen Innovationsoffensive des Eisenbahnzyklus. Ein Sprecher der Streikbewegung war der junge Einrichter Adolphe Assi, der seine Erfahrungen später in die Pariser Kommune einbringen sollte. Aus dem Streik in Le Creusot heraus erklärte er die »industrielle Kommune«, als Teil der landesweiten Kommunebewegung. Doch auch in weiteren Städten und Regionen und auch in den französischen Kolonien wurden Kommunen ausgerufen. Sie bildeten die französische Kommunebewegung vor der Pariser Kommune.

Dies ist kein wissenschaftliches Werk, sondern ein neuer Einstieg. Manche Darstellungen dieses sehr komplexen Geschehens sind notgedrungen summarisch. Auf Fußnoten haben wir verzichtet. Alle Zitate finden sich in den Werken der angegebenen Literatur, die wir all jenen ans Herz legen, die sich näher mit der Kommunebewegung 1870/71 beschäftigen wollen.

Die drei Kommunen von Marseille

Die Ursprünge der Kommune von Marseille reichen bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Während des zweiten Kaiserreichs erlebte die Stadt eine beispiellose ökonomische Innovationsoffensive und wurde zum bedeutendsten Hafen Frankreichs ausgebaut. Die Erweiterung des Hafens von 1844 bis 1859, die Weiterentwicklung der Dampfschifffahrt und die Eröffnung des Suezkanals 1869 machten die Stadt zum Tor zum Orient, und die Nähe zu Algerien brachte enge Beziehungen zu der Kolonie mit sich. Im Zuge dessen entwickelte sich in der Stadt eine Großindustrie, die nach neuen Arbeitskräften verlangte. Zahlreiche Bäuer*innen aus der umgebenden Provence, aber auch Arbeiter*innen aus Italien, Armenien, Polen, Tschechien, Spanien und Nordafrika kamen in die Stadt, um sich in den Docks und neuen Fabriken zu verdingen. Die Zahl der Einwohner*innen von Marseille stieg von knapp 200 000 Menschen im Jahr 1851 auf 313 000 Menschen im Jahr 1872. Damit war Marseille die Stadt mit dem anteilsmäßig größten Bevölkerungswachstum des Landes.

Diese Proletarisierung brachte erstmalig in der Stadt heftige Streiks und Emeuten mit sich. Während es bei der Revolution von 1848 in Marseille nicht zu gewalttätigen Zusammenstößen wie in Paris kam, brachen von April 1867 bis zum Januar 1868 unter anderem in den Bergwerken von Fuveau, Gréasque oder Gardanne im Hinterland von Marseille heftige Streiks aus. Auch in Marseille selbst begannen die Hafenarbeiter mit ersten Aufständen. Trotz dieser Streiks war Marseille noch keine »rote« Stadt, allenfalls eine republikanische Bastion. Seit 1865 gab es dort bereits einen gemäßigt republikanischen Stadtrat. Im Mai und Juni 1869 wurden bei den nationalen Parlamentswahlen in der Stadt sogar zwei erklärte Gegner des Kaiserreichs, Léon Gambetta und Alphonse Esquiros, gewählt. Vom bürgerlichen Reichtum der Stadt zeugten zahlreiche herrschaftliche Gebäude wie der Palast von Longchamp, das Rathaus, der Palais du Pharo, und die Basilika Notre-Dame de la Garde, die während der Kommune(n) von Marseille noch Bedeutung erlangen sollten.

Auch wenn der deutsch-französische Krieg relativ weit entfernt von der Hafenstadt im Süden des Landes stattfand, so regte sich doch auch dort verstärkt Widerstand gegen den Krieg. Die sich abzeichnende Niederlage führte im Juli 1870 zu einer Großdemonstration gegen Krieg und Kaiserreich in der Stadt. An der Organisation dieser Demonstration waren maßgeblich Aktivist*innen der IAA beteiligt, deren Sektion in Marseille im Juli 1867 vom Typografen André Bastelica (1845 - 1884) gegründet worden war. Ähnlich wie in Lyon wurde die Sektion weniger von Marx als von Bakunin beeinflusst, mit dem Bastelica eng befreundet war. 1871 sollte die Sektion der IAA in Marseille 4 500 Mitglieder erreichen.

Kommune für einen Tag und die »Ligue du Midi«

Am 7. August 1870, dem Tag der französischen Niederlage von Wörth, versammelte sich eine gewaltige Menschenmenge von 40 000 Menschen vor dem Rathaus und versuchte es zu besetzen und die bonapartistischen Bürokraten zu vertreiben. Die Menge stellte sich gegen die Fortführung des Krieges und forderte die Republik. Am Abend trafen sich in aller Eile Radikale und Mitglieder der IAA in der Rue Vacon nahe dem Hafen und bildeten dort ein zentrales Aktionskomitee, das am nächsten Tag die erfolgreiche Stürmung des Rathauses anführte. Dort wurde unter Führung des Anwalts Gaston Crémieux (1836 - 1871) und des Journalisten Gustave Naquet (1819 - 1889) ein revolutionäres Komitee eingesetzt, das sich aus Angestellten, Aktivsten der IAA und Arbeitern wie Schuhmachern und Maurern zusammensetzte. Das Hauptaugenmerk dieses Komitees lag in der Neuorganisation der Nationalgarde, um die Stadt selbstverwaltet verteidigen zu können. Die Mitglieder des Komitees verstanden sich dabei lediglich als »patriotische Vertreter der Stadt Marseille« und hegten keine Gedanken, die Kommune jenseits der Stadt auszudehnen.

Allerdings sollte dieses Komitee ohnehin nur wenige Stunden überdauern, da dieser erste kommunale Aufstandsversuch in Marseille noch am selben Tag von der kaisertreuen Polizei zerschlagen wurde. Auch die Menge konnte durch das Zögern des Komitees und der fehlenden inhaltlichen Bestimmung leicht zerstreut werden. Rund dreißig Aufständische wurden daraufhin in den Kerker des Fort Saint-Jean geworfen und bereits am 27. August von einem Kriegsrat zu einer mehrmonatigen Haftstrafe verurteilt.

Als am 4. September 1870 die Republik ausgerufen wurde, strömte auch in Marseille die Menge auf die Straßen und stürzte die Standbilder Napoleons. 20 000 Menschen zogen vor das Gefängnis und befreiten die Gefangenen des 8. August. Das Rathaus wurde erneut besetzt und die rote Fahne gehisst. Der Zerfall der bonapartistischen Strukturen führte in der Stadt zur Gründung einer revolutionären Zivilgarde, die vor allem aus Einwohner*innen der proletarischen Viertel bestand. Beim Sturm auf das Rathaus hatten sie über 1 000 Gewehre erbeutet und stellten somit die größte militärische Kraft der Stadt dar. Eigenmächtig verhaftete die Garde alte bonapartistische Beamte. Ebenso führte die neu gewonnene Pressefreiheit zur Gründung zahlreicher neuer Zeitungen wie der Le Peuple, deren Chefredakteur Naquet wurde …

Detlef Hartmann und Christopher Wimmer
Die Kommunen vor der Kommune 1870/71. Lyon - Le Creusot - Marseille - Paris
Assoziation A
144 S., kt., 14,00 €

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das beste Mittel gegen Fake-News und rechte Propaganda: Journalismus von links!

In einer Zeit, in der soziale Medien und Konzernmedien die Informationslandschaft dominieren, rechte Hassprediger und Fake-News versuchen Parallelrealitäten zu etablieren, wird unabhängiger und kritischer Journalismus immer wichtiger.

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!

Unterstützen über:
  • PayPal