Kommunismus und Konfuzius

Warum ticken Menschen in China anders als wir in Europa? Ein Erklärungsversuch

  • Hans Modrow
  • Lesedauer: 7 Min.

In China lebt die Idee guter Nachbarschaft zwischen Orient und Okzident, zwischen den Völkern. »Eine Brücke der Freundschaft und Kooperation zwischen Asien und Europa bauen«, überschrieb beispielsweise Xi Jinping seine Rede, die er am 1. April 2014 am Collège d’Europe im belgischen Brügge hielt. »Obwohl China und Europa weit voneinander entfernt liegen, leben wir doch beide in der gleichen Zeit und im gleichen Raum, ja wir sind aufs Engste miteinander verbunden.« Xi hatte nicht nur bilaterale Beziehungen im Blick, sondern regionale und globale. »Wir sollten eine Brücke für den Frieden und die Stabilität bauen und die beiden starken Mächte China und die EU miteinander verbinden.« Unter Hinweis darauf, dass man in Europa Bier und in China Tee präferiere, zitierte er Konfuzius mit dem Satz von der »Harmonie in der Verschiedenheit«, was, so Xi, dem EU-Motto von der »Einheit in Vielfalt« entspräche.

Es war nicht das erste Mal, dass ein chinesischer Politiker einen chinesischen Philosophen zitierte, der vor etwa zweieinhalbtausend Jahren gelebt hatte. Konfuzius lehrte ein Menschenbild und eine menschliche Ordnung, die auf der Achtung vor anderen Menschen fußte. Der Mensch könne nur gut sein, wenn er sich in Harmonie mit dem Weltganzen befinde, sagte er angeblich - denn es gibt keine schriftlichen Zeugnisse von Konfuzius. Alles, was wir von ihm oder über ihn wissen, wurde erst Jahre nach seinem Tode notiert. Gleichwohl prägte sein Weltbild das Denken und die Moral, damit auch die Kultur und die Politik über Jahrhunderte in China. Lange bevor im christlichen Abendland die Bibel mit den zehn Geboten einen Moralkodex formulierte, lehrte Konfuzius vier Grundtugenden: Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit, kindliche Pietät - womit die Verantwortung und der Respekt der Nachgeborenen gegenüber ihren Vorfahren gemeint war - und die Einhaltung von Regeln. Zu Letzterem gehörte laut Konfuzius: »Richtiges Verhalten zu anderen Menschen - es befreit von Sorgen. Weisheit - sie bewahrt vor Zweifeln. Entschlossenheit - sie überwindet die Furcht.« Womit er auch gleich den Nutzen genannt hatte, was eine hinlängliche Begründung für ihre Anwendung lieferte.

Und hier liegt auch der Schlüssel für das Selbstverständnis der Chinesen. Erst durch die Ordnung und deren Einhaltung, so Konfuzius, ist Freiheit möglich. Eine wohlgeordnete Gesellschaft schafft Strukturen für ein freies Leben des Menschen. Ordnung unterdrückt also nicht die Freiheit, sondern eröffnet einen Handlungsraum, in dem menschliche Tätigkeiten einen Sinn bekommen. Ungeregelte, chaotische Zustände hingegen erzeugen ein Klima der Unfreiheit, des Zwangs und der Bedrängnis.

Solche Überlegungen brachten in Jahrtausenden ganz bestimmte und beständige soziale Strukturen und Verhältnisse hervor - mit einem eigenständigen gesellschaftlichen Bewusstsein, mit einer Mentalität und einer Denkweise, die sich von denen der europäischen Völker wesentlich unterscheidet. Sie wurzeln tief im Denken und Fühlen des chinesischen Volkes und zeigen sich auch in bestimmten sozialen Verhaltensweisen. Das kommt den Europäern (wozu man auch deren Nachfahren in Nordamerika und Australien rechnen muss) mitunter seltsam vor. Sie haben, weil sie es einfach nicht besser zu wissen scheinen (oder nicht wissen wollen), dafür nur eine schlichte Erklärung: kommunistische Indoktrination, Gleichschaltung und Unterdrückung.

Im sozialen Denken und Verhalten der Chinesen spielen die Gemeinschaft und das Gemeinschaftsleben eine wesentlich andere Rolle als in den europäischen Ländern. Das Individuum tritt hinter der Gemeinschaft zurück, diese hat einen überragenden Rang. Das Denken der europäischen Völker dagegen ist wesentlich von der antiken griechisch-römischen Kultur mit ihrem Ideal der Entfaltung der Persönlichkeit geprägt, welches später in der Renaissance und mit der bürgerlichen Aufklärung weiterentwickelt wurde und in vieler Hinsicht auch im Marxismus und seinem sozialistischen Humanismus weiterlebt.

Aus dieser unterschiedlichen Geschichte sind eben auch wesentliche Unterschiede in der Sozialpsyche entstanden.

Wenn man aufmerksam Texte etwa von Mao, Deng oder Xi liest, fällt auf, dass sie oft sprachliche Bilder benutzen, Metaphern, Gleichnisse, die in politischen Reden von Europäern nie Verwendung finden würden. Wir kennen alle den Spruch von Deng, mit dem er die Einführung privatkapitalistischer Elemente begründete: »Egal, ob die Katze weiß oder schwarz ist - Hauptsache, sie fängt Mäuse.« Oder Maos Gleichnis: »Die Menschen des Westens sind wie Eichen: Sie kämpfen gegen den Wind und riskieren, zerbrochen zu werden. Menschen des Orients dagegen sind wie Bambus - biegsam, aber immer wieder fähig, sich aufzurichten.«

Oder Xi, wenn er im Kampf gegen die Korruption erklärt: »Uns muss stets bewusst sein, dass wurmstichiges Holz morsch wird und eine brüchige Mauer leicht einstürzt. Wir müssen jeden Korruptionsfall ermitteln und jede Bestechlichkeit verfolgen. Wir müssen Tiger und Fliegen gleichermaßen erlegen.«

Das empirisch-sinnlich geprägte chinesische Denkmuster unterscheidet sich wesentlich vom logisch-rationalistischen, welches in der griechisch-römischen Antike begründet und dann im Zusammenhang mit der Entstehung der modernen Naturwissenschaften (auf der Grundlage der sich entwickelnden kapitalistischen Produktionsweise) weiter perfektioniert wurde. Dieses mehr abstrakte Denken arbeitet vorzugsweise mit logischen Methoden, mit definierten Begriffen, Formeln und Gesetzesformulierungen, während das chinesische Denken viel gegenstandsbezogener ist.

Yao Guohua, ein marxistischer Philosoph und Historiker, der 2006 in die Liste der hundert wichtigsten Intellektuellen der Volksrepublik aufgenommen wurde, schrieb dazu: »Die Chinesen sind es nicht gewohnt, in Kategorien logisch und mathematisch zu denken. Sie sind es mehr gewohnt, emotional, intuitiv und bildhaft zu denken. Die chinesischen Schriftzeichen sind Piktogramme. Die Kultur der chinesischen Schrift beruht auf einer emotionalen Anschauung. Sehr selten gibt es ein abstraktes Denken, das sich vom Inhalt der Erfahrungen gelöst hat.«

Die Chinesen haben auf der Grundlage der empirischen Erfahrungen und Kenntnisse epochale Entdeckungen gemacht: das Papier, das Porzellan, das Schießpulver, den Kompass. Die traditionelle chinesische Medizin gelangte zu Diagnose- und Therapieverfahren, die bis heute Bestand haben und zunehmend auch von der klassischen naturwissenschaftlichen Medizin respektiert und genutzt werden. Die Chinesen waren am Beginn der Neuzeit in der Lage, Schiffe mit bis zu neun Masten zu bauen, die zehnmal größer waren als die Schiffe der europäischen Seefahrer damals. Aber sie haben keine theoretischen Systeme in streng logischer Formulierung entwickelt, wie in der europäischen Wissenschaft. Warum nicht?

Das hat nichts mit intellektuellem Unvermögen zu tun, wie überhebliche Europäer bis heute glauben, sondern liegt darin begründet, dass die naturverbundene Wirtschafts- und Lebensweise der Agrargesellschaft dafür weder Bedürfnisse noch Triebkräfte hervorbrachte, worauf Yao Guohua, der zu Kultur und Zivilisation forschte, in einer Arbeit 2007 hinwies. Wer diese historisch bedingten Unterschiede nicht beachtet, wird auch von der gegenwärtigen chinesischen ökonomischen, sozialen und geistigen Entwicklung nicht viel verstehen.

Und wie kam nun der Marxismus nach China? Zunächst waren es überwiegend chinesische Intellektuelle, die in Europa studierten und dort sowohl an den Universitäten als auch in den Betrieben, in denen sie arbeiteten, mit den Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus in Berührung kamen. Bei ihrer Heimkehr brachten sie den Marxismus aus dem Westen mit, verbanden ihn mit der entstehenden Arbeiterklasse und schufen die Voraussetzungen für die Entstehung der Kommunistischen Partei 1921.

Aber der Marxismus und sein Gedankengebäude ist ein Produkt der europäischen Kultur- und Geistesentwicklung. Er führt viele Gedankengänge der Renaissance und besonders der bürgerlichen Aufklärung und des Humanismus weiter; er ist ein theoretisches System, in dem eindeutig definierte Begriffe in ihren logischen und dialektischen Zusammenhängen formuliert sind. Zwar überwindet der Marxismus den bürgerlichen Individualismus, der den einzelnen Menschen von der ihn umgebenden und tragenden Gesellschaft trennt, aber er ignoriert keineswegs die besondere Stellung und Rolle des Individuums in der Gesellschaft, sondern strebt dessen möglichst allseitige freie Entfaltung mit und in der Gesellschaft an.

Die Übertragung des Marxismus in die geistige Welt der chinesischen Gesellschaft musste zu Problemen führen, denn hier stießen nicht nur fremde Ideen, sondern auch sehr verschiedenartige Denkweisen aufeinander. Da folge ich der Darstellung des 2020 verstorbenen ostdeutschen Philosophen und Politikwissenschaftlers Alfred Kosing uneingeschränkt. Im jahrzehntelangen Aneignungsprozess bildete sich eine relativ eigenständige Form des Marxismus heraus, in der sein Inhalt sich mit überlieferten Ideen und Denkweisen von Konfuzius verband, es erfolgte eine gewisse Sinisierung des Marxismus.

Zum 100. Geburtstag von Deng Xiaoping im Jahr 2004 erklärte Professor Qin Gang von der Parteihochschule die Bedeutung des Jubilars und damit des in China vorherrschenden Denkens und Handelns: »Marx entwickelte sein Verständnis des Sozialismus aus der Kritik am Kapitalismus. Lenin wollte den Sozialismus aufbauen, indem er den Kapitalismus ausnutzte. Nach Auffassung Deng Xiaopings ist der Sozialismus durch das Lernen vom Kapitalismus zu errichten.«

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal