Auf Holzwegen im Sandstein

Sperrungen durch Waldschäden in der Sächsischen Schweiz wecken Sorgen um die Zukunft der Wanderwege im Nationalpark

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 9 Min.
Waldschäden: Auf Holzwegen im Sandstein

Wann ist ein Weg ein Weg? Wann verdient er es, als gestrichelte Linie oder kräftiger Strich in eine Karte aufgenommen zu werden? Den Ausschlag gibt zuallererst »die physische Ausprägung«, sagt der Kartograf Rolf Böhm: ein Pfad im Gelände, eine Schneise im Wald. Außerdem aber sei ein Weg auch ein »Kulturgut«. Wo über Jahrhunderte Menschen entlanggelaufen sind, verläuft ein Weg - auch wenn bereits das Gras darüber zu wachsen beginnt.

In den Wanderkarten, die Böhm von der Sächsischen Schweiz zeichnet und die bei Wanderern Kultstatus genießen, wimmelt es von Wegen. Viele davon legten ursprünglich Holzfäller an, die in Seitentäler vordrangen, dort Bäume schlugen und wieder umkehrten. »Ein Holzweg ist meist eine Sackgasse«, sagt Böhm. Andere wurden von Jägern getreten, von Schmugglern im sächsisch-böhmischen Grenzland oder von Wanderern. Böhm holt eine historische Karte hervor: die »Josephinische Landesaufnahme« von 1764. Sie zeigt bereits einen »Fremdenweg« zum Prebischtor, einem Felsbogen aus Sandstein. Seit dem 19. Jahrhundert, als die Sächsische Schweiz mit ihren Felsen, Tafelbergen und wildromantischen Klüften in großem Stil touristisch erschlossen wurde, kamen viele dazu. Böhms Karten, deren Vorlagen er von Hand zeichnet und die so einen besonderen Charme entfalten, zeigen sie alle: Fuchsloch, Großer Zschand, Pechschlüchte, Thorwaldweg. Viele der Namen klingen verheißungsvoll und reizen die Neugier des Wanderers.

Die aber kann oft nicht mehr gestillt werden. Wo der Große Zschand von der Straße durch das Kirnitzschtal abzweigt, stehen Plastikzäune und eine Sperrscheibe. Der Weg sei »für jeglichen Besucherverkehr gesperrt«, steht auf einem Schild. Grund sei die »Gefahrensituation« durch abgestorbene Bäume. Immerhin wird Wanderern eine Umleitung empfohlen. Doch die Sperrung ist nicht die Einzige in der hinteren Sächsischen Schweiz zwischen Bad Schandau und tschechischer Grenze. Insgesamt seien 40 Kilometer markierter Wanderwege und 50 Kilometer unmarkierter Wege geschlossen, sagt der Sächsische Bergsteigerbund (SBB). Das Wegenetz drohe »extrem auszudünnen«, klagt Tino Richter, Geschäftsführer des regionalen Tourismusverbandes TVSSW. Beliebte Wanderrouten würden zu Sackgassen, Bauden seien nicht mehr zu erreichen. In einem Offenen Brief an Sachsens CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer warnen Kommunalpolitiker und Tourismusverantwortliche vor »frustrierten Gästen und chaotischen Zuständen an Besucherschwerpunkten« in der bevorstehenden Hauptwandersaison.

Gefährliche Wanderrouten

Die schwierige Lage ist einerseits naturgegeben. Nach drei Dürresommern in Folge und etlichen Stürmen ist der Wald auch in der Sächsischen Schweiz in verheerendem Zustand. Der Borkenkäfer breitet sich aus; Fichten, bisher die dominierende Baumart, sind großflächig abgestorben. Mancherorts liegen sie kreuz und quer auf kahlen Hängen und in Talgründen. Anderswo ragen die kahlen Stämme grau in den Himmel, ein gespenstisches Bild. Oft brechen sie ohne jede Vorwarnung um und stürzen in die Schluchten. Die gesperrten Gebiete zu betreten ist kreuzgefährlich: für Wanderer, aber auch für Waldarbeiter.

Andererseits aber sei die unbefriedigende Lage nicht nur Borkenkäfer und Trockenheit geschuldet, meinen Kritiker. Die Sächsische Schweiz ist seit 1990 zu großen Teilen Nationalpark. Die Art und Weise, wie dessen Verwaltung mit dem aktuellen Problem umgehe, habe ein »gewisses Maß an Unzufriedenheit und Enttäuschung« erzeugt, heißt es in dem Offenen Brief. Zwar erklärt der Nationalpark, im vorigen Winter seien 34 Kilometer Wege beräumt worden. Im Umgang mit weiteren gesperrten Trassen verfolge man aber eine zu »zögerliche Strategie«, klagt Sachsens Bergsteigerbund, der 16 000 Mitglieder zählt. Man sei sich »nicht sicher«, ob der Nationalpark und dessen seit Juli 2020 amtierender neuer Chef Ulf Zimmermann »die Relevanz der Erholungsnutzung« in der als Touristenmagnet geltenden Region »zur Gänze verinnerlicht hat«.

Damit flammt in der Region ein Konflikt wieder auf, der Ende der 1990er-Jahre für erbitterte Diskussionen sorgte, aber eigentlich beigelegt schien. Er dreht sich im Kern um die Frage, in welchem Verhältnis Naturschutz und Tourismus austariert werden - und welche Wege dabei im Wortsinn begangen werden dürfen. Zunächst wurde eine Linie verfolgt, die Kartograf Böhm auf die Formel bringt: »Wo ein Weg in der Landschaft war, konnte man entlanglaufen.« Das Prinzip hatte in dem Naturschutzgebiet gegolten, das in der Sächsischen Schweiz in den 1960er-Jahren eingerichtet worden war, und wurde zunächst auch im Nationalpark übernommen.

Dann aber kam es zum Konflikt. Für Wanderer zugänglich sollten nur noch Wege sein, die ausdrücklich markiert wurden. Die Regel gilt in der Kernzone des Nationalparks, die 2160 Hektar und damit ein knappes Viertel der Gesamtfläche umfasst. Damit wollte man den Anforderungen des Naturschutzes im Nationalpark besser gerecht werden. In derlei Schutzgebieten sollen »natürliche Prozesse weitgehend ohne äußere Einflüsse ablaufen«, betonte der Nationalpark - der Einzige in Sachsen - erst dieser Tage wieder; dort »soll und darf die Natur Natur sein«. Die Kriterien gelten international und sind für die 16 deutschen Nationalparks im Bundesnaturschutzgesetz geregelt. Menschliche Eingriffe sind dabei auf ein Mindestmaß beschränkt; nennenswerte Teilbereiche sollen binnen einiger Jahrzehnte quasi zu Wildnis werden.

Die spannende Frage ist, in welchem Umfang das mit einer touristischen Nutzung zu vereinbaren ist - gerade in einem Nationalpark wie der Sächsischen Schweiz, der, so heißt es im aktuellen Offenen Brief der Kommunalpolitiker und Touristiker, »so dicht an Siedlungsraum angrenzt wie kein anderer« in der Bundesrepublik. Dresden ist keine 50 Kilometer entfernt. Sonntags schwärmen die Städter in Scharen in das Sandsteinparadies aus; dazu kommen viele Touristen. Es galt und gilt, Kompromisse zwischen deren Belangen und dem Schutz der Natur zu finden. Ausgehandelt werden sie zum Beispiel in der 1999 eingerichteten »AG Wege«, in der Vertreter von Nationalpark, Wanderern, Bergsteigern und Kommunen über das Netz an Wanderwegen berieten.

Die Kompromisse, die vereinbart wurden, empfindet mancher als schmerzhaft. In der Kernzone, sagt Rolf Böhm, seien »80 Prozent der Wege verschwunden«. Nicht in der Natur, wo sie als Pfad in Wiese oder Gebüsch erkennbar bleiben. Auch nicht auf Böhms Karten, obwohl die Nationalparkverwaltung vor einigen Jahrzehnten gerichtlich durchsetzen lassen wollte, dass er nur noch die für Besucher erlaubten Wege verzeichnet. Er wehrte sich erfolgreich: »Ein Wegenetz vollständig darzustellen, gehört zu den Qualitätsmerkmalen unserer Zunft.« Für die Wanderer sind Wege wie Auerhahnsteig oder Partschenhörner aber faktisch nicht mehr existent: Sie dürfen offiziell nicht mehr begangen werden. Wer es doch wagt, riskiert Ärger mit den Rangern des Nationalparks. Er fühle sich, sagt Böhm, in solchen Fällen »wie ein Dieb, obwohl ich nichts gestohlen habe«.

Zugleich gehen Naturschützern die Beschränkungen noch nicht weit genug. Als der Nationalpark Sächsische Schweiz im Jahr 2012 evaluiert wurde, drängte die Kommission nachdrücklich auf eine »Reduzierung der außerordentlich hohen Wegedichte«. Diese wurde auf 70 laufende Meter je Hektar beziffert; im Nationalpark Bayerischer Wald sind es nur 29 Meter. Außerhalb der Kernzone sei deshalb eine »weitgehend ganzflächige Besucherfrequentierung« festzustellen; Belange des Naturschutzes würden dagegen »nicht ausreichend berücksichtigt«.

An solche Sätze fühlt sich mancher jetzt angesichts der aktuellen Wegsperrungen erinnert. Womöglich lieferten die Waldschäden einen Vorwand, um das Netz an Wanderwegen weiter auszudünnen, sagt Böhm. Auf seiner Internetseite zeichnet er ein Szenario, das nur halb wie eine Groteske wirkt. In mehreren Schritten lässt sich auf einer Karte verfolgen, wie ein Wanderweg nach dem anderen verschwindet. 100 Jahre nach Gründung sei der Nationalpark im Jahr 2090 »endlich touristenfrei«, weitere 50 Jahre danach sei der »Wiederaufbau einer Echtnatur-Sumpfbruch-Brandfolgen-Trockenrasen-Waldlandschaft« abgeschlossen. Andere sind nicht ganz so pessimistisch. Doch auch der Offene Brief erinnert daran, dass einst vereinbart worden sei, die Ziele von Naturschutz, Erholung, Bildung und Forschung im Nationalpark »ebenbürtig« zu behandeln. Die aktuellen Entwicklungen, wird angefügt, »lassen zweifeln, dass die Erholungsfunktion noch als gleichrangiges Ziel gesehen wird«.

Der Nationalpark weist die Vorwürfe strikt zurück. »Alle im Wegekonzept vereinbarten Wanderwege werden künftig wieder freigeschnitten«, sagt Sprecher Hanspeter Mayr. Auch das übergeordnete, vom Grünenpolitiker Wolfram Günther geführte Umweltministerium betont in der Antwort auf eine AfD-Anfrage, eine Reduktion der Wanderwege sei »nicht geplant oder beabsichtigt«.

André Hahn, in der Sächsischen Schweiz beheimateter Bundestagsabgeordneter der Linken, sieht »keine Belege« für die geplante Ausdünnung des Wegenetzes und keinen Grund für »Alarmismus«. Er hat sich kürzlich mit dem Nationalparkchef Zimmermann getroffen, ihn mit den Befürchtungen konfrontiert und »glaubhaft versichert« bekommen, dass der Nationalpark die derzeitigen enormen Schäden »nicht benutzen wird, um Naturflächen zu vergrößern«. Nach dem Sommer wolle er sich erneut ein Bild von der Lage machen, sagte Hahn zu »nd«. Viel wird sich an den Sperrungen bis dahin freilich voraussichtlich nicht geändert haben. Die Arbeiten an 30 Kilometern Rettungswegen würden beginnen, sobald die für den Naturschutz zuständige Landesdirektion das genehmigt habe, »jedoch nicht vor Mitte August«, sagt Mayr. Bis dahin gelten Schutzfristen für Jungvögel und Jungtiere. Die Rettungswege sollen im Frühjahr 2022 wieder frei sein, wenn es keine neuen Schäden gibt.

Schwierige Räumungen

Für die Wanderwege kann Mayr keinen Termin nennen. Mit der AG Wege sei ein Stufenplan abgesprochen. Der Bergsteigerbund kritisiert, von den zehn wichtigsten momentan unzugänglichen Wanderwegen werde lediglich einer »ab Herbst punktuell frei gesägt«. Das ergab eine Sitzung der AG Wege Ende April. Der SBB hatte zuvor einen Stufenplan vorgelegt, für den Ehrenamtliche die Wege begutachtet hatten und Maßnahmen vorschlugen. Vier Routen, an denen schwere Technik eingesetzt werden konnte, sind mittlerweile freigeschnitten. Das ermöglicht unter anderem den Zugang zu einer bei Touristen beliebten Klamm in Hinterhermsdorf, auf der Kahnfahrten zwischen steilen Sandsteinfelsen stattfinden. Mit Blick auf andere, für das Wegenetz wichtige Trassen ist der Verband aber enttäuscht. Teils steht die Prüfung durch die Landesdirektion aus; wie sie ausgeht, ist offen. Für weitere Wege herrscht striktes Betretungsverbot für Forstarbeiter, weil die Gefahren selbst für versierte Fachleute unkalkulierbar sind. Um mit Maschinen zu arbeiten, seien viele Wege zu schmal oder das Gelände zu unwegsam, sagt Mayr. Zugleich fürchtet man das »unkontrollierte Umkippen oder Abbrechen« der toten Bäume. Erst wenn die Gefahr gebannt ist, etwa indem sie allein umbrechen, können Wege dort per Motorsäge freigeschnitten werden.

Es wird also noch dauern, bis Wege wie im Großen Zschand wieder für Wanderer zugänglich sind. Das Umweltministerium verweist auf einen »mehrjährigen Stufenplan«. Die Nationalparkverwaltung gab dieser Tage gemeinsam mit dem landeseigenen Forstbetrieb ein Faltblatt heraus, auf dem zehn Wanderrouten jenseits der besonders stark geschädigten Flächen beworben werden.

Die Skepsis von Rolf Böhm räumt ein solches Faltblatt nicht aus. Der Kartograf hofft dennoch, dass sein Schreckensszenario für die Wanderwege in der Sächsischen Schweiz nicht Realität wird. Für den Umgang mit diesen schlägt er eine einfache Faustregel vor. »Wenn sie mich fragen, sollte gelten: Alle Wege, die auf Böhms Wanderkarten eingezeichnet sind, darf man benutzen.«

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