Exzess in Blut, Fett und Gold

Pauline Curnier Jardin widmet im Hamburger Bahnhof ihren Film »Fat to Ashes« menschlichen Ritualen

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 5 Min.

Eine Arena ragt in der hohen, historischen Halle des Hamburger Bahnhofs auf. Kirchliche Gesänge füllen den Saal, der wie ein großer leerer Platz wirkt, auch Straßenlärm und Hundegebell sind zu hören. Nur wenige Menschen gehen vorüber, umrunden die Arena, schlüpfen durch einen Vorhang ins rosafarbene Innere und nehmen auf den Stufen Platz. Die Arena bildet den Rahmen für Pauline Curnier Jardins Film »Fat to Ashes«, das Zentrum der gleichnamigen Ausstellung. Auf der großen Leinwand in der Mitte spielen sich Szenen ab, die im Kontrast zur - auch coronabedingten - Leere der Halle stehen.

Die rund 20-minütige Vorführung beginnt mit Bildern von goldfarbenen Engelsfiguren und Menschenmassen, die durch einen Ort ziehen. Klatschen, Gesang, Gedränge, Gold und Glitzer: Bilder und Geräusche, die von Aufregung und Begeisterung zeugen, prasseln auf die Zuschauer*innen ein. Es ist das Fest zu Ehren der heiligen Agatha, das die in Rom und Berlin lebende Pauline Curnier Jardin Anfang 2020 festgehalten hat. Zu Ehren der Schutzheiligen ziehen jedes Jahr Anfang Februar Prozessionen mit Heiligenstatuen, Blumen und riesigen Kerzen durch die Straßen der sizilianischen Stadt Catania. Auf einer Sänfte wird Agathas Reliquienschrein durch die Straßen getragen. Der Legende nach ließ ihr ein römischer Präfekt die Brüste abschneiden, weil sie seine Avancen ablehnte. Schließlich starb sie auf einem Bett aus glühenden Kohlen. Agatha gilt als Schutzheilige unter anderem für Vergewaltigungsopfer und Brustkrebspatientinnen.

»Fat to Ashes« füge sich in den Kontext von Jardins Beschäftigung mit Ritualen, erzählt die Kuratorin Kristina Schrei. »Aber es war auch klar, dass sie eine neue Arbeit machen will.« Für die Ausstellung im Hamburger Bahnhof schuf die Künstlerin den Film und die Schaumstoff-Arena, in der dieser präsentiert wird. Jardins wackelige, auf 16-mm- und Super-8-Film festgehaltenen Bilder wirken wie aus einer längst vergangenen Zeit, dabei sind sie erst vor rund einem Jahr entstanden. Die Künstlerin hat die Feierlichkeiten zu Ehren der gequälten Agatha mit Bildern vom Kölner Karneval und der rituellen Schlachtung eines Schweins in einem italienischen Bergdorf zusammengeschnitten. Auch in Köln präsentieren sich Menschenmassen, dieses Mal mit glitzernden Gesichtern. Menschen, die sich küssen, gemeinsam feiern - bevor Corona Europa lahmlegte. Die Filmaufnahmen sind kurz vor dem Ausbruch der Pandemie entstanden. »Das ist fast schon ein historisches Artefakt«, sagt Kuratorin Kristina Schrei. Eigentlich habe Pauline Curnier Jardin auch Osterprozessionen filmen wollen, aber dazu sei es nicht mehr gekommen.

In Fett und Zucker gewälzte Mandeln, über den Boden fließendes Blut oder Wachs neben ausgelassenem, rauschhaft wirkendem Feiern: Bisweilen schleicht sich beim Zugucken Ekel vor Menschen und ihren Ritualen ein. Unklar, ob die Übelkeit vom zerschnittenen Schwein oder den wackeligen Bildern kommt. Wegschauen ist trotzdem schwer. Denn was Pauline Curnier Jardin hier versammelt, ist so abstoßend wie faszinierend. Allein die Nähe der Menschen zueinander und das permanente Gedrängel wirken in diesen Tagen surreal und irgendwie spannend. Vielleicht bahnt sich auch eine kleine Wehmut ihren Weg, gepaart mit dem Wunsch, sich nach Monaten der Zurückhaltung selbst mal wieder ein wenig im Exzess zu üben.

Pauline Curnier Jardin arbeitet mit Installationen, Performances, Film und Zeichnungen. Die 1980 in Marseille geborene Künstlerin nutzt dabei häufig organische und andere sinnlich wirkende Materialien wie Fleisch, Haut, Wachs, Fett oder Asche. 2019 gewann Jardin den Preis der Nationalgalerie, 2021 den Villa-Romana-Preis in Florenz. 2019 bis 2020 war sie Stipendiatin der Villa Medici in Rom. Zwar bildet ihr Film »Fat to Ashes« den Mittelpunkt der Ausstellung im Hamburger Bahnhof, doch an ihren Rändern ist mehr zu sehen: An den Säulen der Halle sind große Kerzen und kleine Bilder angebracht, und die Soundinstallation mit klackenden Schuhen und einem bellenden Hund verwandeln die Säulen in der Halle in eine Straßenflucht. Die Kerzen an den Säulen stammen aus Sizilien und wurden dort gesegnet, berichtet die Kuratorin. Teilweise kindlich wirkende Zeichnungen zeigen Motive, die eher auf ein Erwachsenenleben deuten: eine Person mit hohen Pumps im Park, ein Mann mit einem erigierten Penis oder eine Frau, die sich zu einem Autofenster lehnt und dabei den Po rausstreckt.

Die Arbeiten sind bei einem Projekt der Künstlerin mit Sexarbeitenden entstanden. »Das war eine direkte Reaktion auf den Lockdown in Rom. Sie hat sich gefragt, wer am meisten darunter leidet«, erzählt die Kuratorin. Sexarbeitende verloren als sowieso schon gesellschaftlich marginalisierte Gruppe durch den Lockdown ihre Lebensgrundlage. Pauline Curnier Jardin organisierte gemeinsam mit der Fotografin und Sexarbeiterin Alexandra Lopez und der Architektin und Wissenschaftlerin Serena Olcuire einen Workshop für in Rom lebende, aus Kolumbien stammende Sexarbeiterinnen. »Sie hat die Frauen eingeladen, ihren Arbeitsalltag zu zeichnen«, erzählt Kristina Schrei. Dafür bekamen die Frauen so viel Geld, wie sie in dieser Zeit als Sexarbeiterinnen verdient hätten. Aus dem Workshop entstand die »Feel Good Cooperative«, eine Kooperative von Sexarbeitenden. »Feel Good«, also Wohlfühlen, bezieht sich auf die Arbeit der Frauen, die für das Wohlbefinden anderer Menschen sorgen. Ihre zeichnerischen Werke wurden schon mehrmals ausgestellt und werden auch verkauft. »Der Erlös geht an die Kooperative«, so Kristina Schrei. Dass die Bilder auch in einem Museum gezeigt werden, gebe den Frauen Sichtbarkeit, sagt die Kuratorin. Eine Sichtbarkeit, die sie sonst im Kunstkontext kaum bekommen würden.

Schaumstoff, Wachs, Stein: Pauline Curnier Jardin arbeitet mit Brüchen in der Materialität. Manche erinnere der Bau an etwas Essbares. Auf der Webseite zeigt der Hamburger Bahnhof einen Film zur Ausstellung, die bald nach der Eröffnung coronabedingt wieder geschlossen wurde. Nun hat man wieder Gelegenheit, die sinnlichen Eindrücke der Materialien, das Zusammenspiel aus Sound, Bildern und Raum vor Ort zu erleben.

Pauline Curnier Jardin »Fat to Ashes« bis zum 19. September im Hamburger Bahnhof Berlin.

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