»Privateigentum wird wieder infrage gestellt«

Der Soziologe Tilman Reitz von der Universität Jena berichtet über den neu eingerichteten Sonderforschungsbereich zum »Strukturwandel des Eigentums«

Der Sonderforschungsbereich »Strukturwandel des Eigentums« besteht aus 23 Teilprojekten, bei denen fünf Hochschulen kooperieren. In welche übergreifende Struktur sind diese Einzelteile eingebettet?

Die Hauptstruktur des Sonderforschungsbereichs besteht in drei Säulen. Die erste Säule beschäftigt sich mit der Entstehungsgeschichte des Privateigentums, angefangen in der römischen Antike. Die zweite Säule untersucht gegenwärtige Eigentumskonflikte: um die Ungleichverteilung des Privateigentums im Rahmen von Unternehmen, in Paarhaushalten, zwischen öffentlichen und privaten Interessent*innen. In der dritten Säule geht es um alternative Eigentumsformen und Alternativen zum Eigentum.

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Diese Alternative können, so ist es im Forschungsprogramm zu lesen, nicht allein »westlich« gedacht werden. Was ist mit diesem Begriff gemeint?

Gemeint ist die europäische und nordamerikanische Tradition mit ihren Ideen und rechtlichen Regelungen zum Eigentum: die Geschichte des Liberalismus, die bürgerliche Philosophie beispielsweise John Lockes oder die Institution der Menschenrechte. Sie alle verlangen, der Schutz des Privateigentums sei absolut zu gewährleisten - da geht es immer darum, dass Individuen andere vom Gebrauch bestimmter Güter ausschließen können. Das ist das Fundament der sozialen Ordnung. Anstelle von »Westen« wird inzwischen häufig auch »Globaler Norden« gesagt.

Als grundlegende Arbeitshypothese formuliert das Forschungsprogramm, es vollziehe sich »spätestens seit 1989« weltweit ein »fundamentaler Strukturwandel von Eigentum«. Was ist hierunter zu verstehen, warum der Kristallisationspunkt 1989?

Nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus 1989 wurde die Mehrheit des sozialistischen Staatseigentums in Privateigentum überführt. Auch die Regierungen der bereits vorher kapitalistischen Staaten privatisierten in einem großen Umfang die öffentlichen Infrastrukturen. Das ist der historische Vorlauf. Heute scheint das Privateigentum an mehreren Fronten wieder infrage gestellt zu werden, durch politische Proteste gegen krasse Ungleichverteilung oder aufgrund von neuen technologischen Entwicklungen wie der digitalen Ökonomie. Wem gehört das, was im Internet steht? Wie ist das Verhältnis zu den natürlichen Ressourcen? Haben wir eventuell bessere Chancen, die Erde nicht zu zerstören, wenn es weniger Privateigentum gibt? Mit solchen Fragen setzt der Sonderforschungsbereich an.

Beim Stichwort »alternative Eigentumsformen« drängt sich in Berlin der Gedanke an die Kampagne Deutsche Wohnen & Co. enteignen auf. Ist die auch Gegenstand des Forschungsbereichs?

Mit Kämpfen um Wohnraum beschäftigt sich der sogenannte Transferbereich »Wem gehört die Stadt?« Gefragt wird hier unter anderem: Warum bedeutet mehr Reichtum in der Stadt, dass immer weniger Leute sich eine Wohnung leisten können? In dem Bereich geht es dann nicht mehr nur um Wissenschaft, sondern auch um Politik. Dabei werden wir auch mit Berliner Gruppen zusammenarbeiten. 2022 machen wir aber zunächst das, was Wissenschaftler so tun, nämlich eine Tagung, in der Enteignung eines der Hauptthemen ist.

Es sollen aber nicht nur Entwicklungen und Kämpfe in Europa und den USA betrachtet werden, sondern auch im sogenannten Globalen Süden. Können Sie hierfür ein Beispiel nennen?

Ein Untersuchungsgegenstand ist China, inzwischen sicher eine kapitalistische Wirtschaft, in der es aber gleichzeitig immer noch Staatseigentum und Familieneigentum an Land gibt. Die Frage, wem der Grund und Boden gehört, wird dann eben zwischen den Familien oder den Dorfgemeinschaften und dem Staat ausgefochten, aber nicht mit privaten Firmen oder Personen.

Außerdem gibt es ein Projekt zu Eigentum an Natur in Brasilien. Dort gab es - wie auch in anderen Staaten des Globalen Südens - langwierige Kämpfe gegen geistiges Eigentum, insbesondere die Patentierung von Saatgut durch europäische und US-amerikanische Konzerne. Nach dem »Nagoya-Protokoll« der Vereinten Nationen wird mittlerweile etwa bei Ansprüchen von Saatgut- oder Pharmakonzernen auf die Patentierung bestimmte Pflanzen geprüft, ob diese nicht in gewisser Weise den indigenen Gemeinschaften gehören, die auch schon viel älteres Wissen über deren Wirkungsweisen haben.

Es ist sicher eine Verbesserung des vorherigen Zustands, wenn indigene Bäuer*innen nicht mehr für ihr eigenes Saatgut zahlen müssen. Zeigt sich aber nicht andererseits gerade hier die Kategorie Eigentum als strukturell gewaltvoll: Alles muss jemandem gehören, jemandes Besitz sein - weil offenbar alles irgendwie gegen feindlichen Zugriff verteidigt werden muss.

Da würde ich zustimmen. Was früher einfach da war und benutzt wurde, ist jetzt als Eigentum erfasst. Heißt das nun, dass beispielsweise Abgesandte des brasilianischen Staates herumfahren und alles katalogisieren? Können die Konzerne so noch viel besser ins Geschäft einsteigen - oder heißt es, dass indigene Gemeinschaften, wenn sich das jeweilige Pharmaprodukt durchsetzt, eine Art Kompensationszahlung erhalten? Irgendwie muss das Verhältnis zu Gütern offenbar geregelt werden, nur muss das eben nicht so sein, dass ein Individuum alle anderen rechtmäßig von der Nutzung eines Gutes ausgrenzt.

Laut deutschem Grundgesetz ist nun aber auch der Besitzer von Privateigentum der »Gemeinschaft« verpflichtet. Macht es hier einen großen Unterschied, ob eine Einzelperson oder eine Gruppe dazu aufgerufen wird - oder geht es nicht vielmehr darum, welche Zwecke innerhalb dieser Gesellschaft oder Produktionsweise eigentlich verfolgt werden?

Das Problem ist, wie wir mit den wirklichen Gütern umgehen, auch wenn sie nicht in die bestehenden Eigentumsformen passen. In der digitalen Wirtschaft etwa scheint es an einigen Stellen fast willkürlich, wer erstens Verfügungsrechte hat und zweitens die Profite von anderer Leute Wissens- oder Kulturproduktion einstreicht. Dort gibt es Güter, die nicht knapp sind, nämlich fast alles, was mit Informationen und Daten zu tun hat. Auf der anderen Seite gibt es absolut knappe Güter wie Wohnraum, Grund und Boden. Die sind endlich und können deshalb nur umverteilt werden. Auf diese knappen Güter konzentriert sich im Moment sehr viel in der kapitalistischen Ökonomie. An beiden »Fronten« merkt man jedenfalls, dass unsere Wirtschaftsweise eigentlich nicht so weitergemacht werden kann wie bisher.

Jenseits von natürlicher Knappheit gibt es im Kapitalismus das meiner Meinung nach wesentlichere Phänomen der Überproduktion: eine riesige Masse an Gütern - und zugleich Mangel auf der Seite derjenigen, die diese nicht bezahlen können. Sowohl Mangel als auch Überfluss sind hier keineswegs natürlich, sondern hergestellt durch das Prinzip der Warenproduktion. Wird dieser Widerspruch im Forschungsprojekt aufgegriffen?

Ich überlege, ob das in irgendeinem Projekt vorkommt - ja, es gibt eins, das Klassenverhältnisse untersucht. Das Problem ist natürlich klar: die Einen haben zu viel und die Anderen zu wenig.

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