Das ethische Dilemma bei der dritten Impfung

Ab September soll es eine weitere Auffrischung für bestimmte Gruppen in Deutschland geben. Doch wie sinnvoll ist der zusätzliche Booster?

Für viele Menschen, die sich gegen Covid-19 haben impfen lassen, war es klar: Nach dem zweiten Piks und zwei Wochen Wartezeit ist voller Immunschutz erreicht, und im Leben herrscht wieder Normalität wie vor der Pandemie. Doch die Erwartung hat sich nicht ganz erfüllt. Es kommt nicht selten zum sogenannten Immunescape, also zu Impfdurchbrüchen: Man kann sich trotzdem infizieren, gewöhnlich ohne schwere Symptome, und in seltenen Fällen das Virus weitergeben. Daher sollten doppelt Geimpfte weiter Maske tragen und sich an andere Maßnahmen halten.

Doch könnte es neben dieser lästigen Entwicklung auch zu einer bedrohlichen Lage kommen: dass immungeschwächte, sehr alte und pflegebedürftige Menschen, obwohl doppelt geimpft, schwer an Covid-19 erkranken? Ihre Immunantwort und damit auch die Wirksamkeit von Impfungen sind ja schwächer. Daten des israelischen Gesundheitsministeriums deuten darauf hin, dass der Schutz vor Ansteckungen unter Geimpften bereits stark abgenommen hat. Einen ähnlichen Effekt scheint auch die Delta-Variante zu haben: Geimpfte stecken sich mit dieser Variante häufiger an als mit vorherigen und haben eine hohe Viruslast. Risikogruppen und Ältere ab 60 erhalten daher in Israel bereits eine dritte Dosis zur Auffrischung, auch in Großbritannien ist dies vorgesehen.

Solche Booster-Impfungen sind ab September nun auch für deutsche Bürger vorgesehen. Dies beschlossen die Gesundheitsminister von Bund und Ländern Anfang der Woche. Das Angebot richtet sich an die bekannten Risikogruppen, aber auch die große Zahl derer, die ausschließlich mit einem Vektorimpfstoff von Astra-Zeneca oder Johnson & Johnson immunisiert wurden.

Die zusätzlichen Impfungen sollen mit den mRNA-Vakzinen von Biontech/Pfizer und Moderna erfolgen. Ausreichend Nachschub dafür ist offenbar vorhanden: Laut EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sind allein bei Biontech 1,8 Milliarden Dosen Impfstoff bis zum Jahr 2023 bestellt. Das sei »der größte Anschlussauftrag weltweit«. Biontech/Pfizer und Moderna scheinen sich die neue mRNA-Monopolstellung entsprechend bezahlen zu lassen. Wie die »Financial Times« berichtete, soll die EU für eine Biontech-Dosis statt 15,50 Euro künftig 19,50 Euro bezahlen, bei Moderna sind es 21,50 Euro statt bisher 19 Euro.

Ein neues Genehmigungsverfahren für den zusätzlichen Booster müssen die Impfstoffe nicht durchlaufen. Dies sei durch die bisherige Notfallzulassung gedeckt, sagt Leif Erik Sander, Leiter der Forschungsgruppe Impfstoffforschung an der Berliner Charité.

Doch ist eine zweite Auffrischung generell notwendig? Biontech bejaht dies, denn diese erhöhe den Immunschutz deutlich. Doch das Unternehmen hat natürlich auch ein Verkaufsinteresse. Wie bei vielen Aspekten rund um Vakzine ist die Antwort nicht einfach. Die leicht nachweisbaren Antikörpermengen gehen nach der ersten Impfung schnell zurück, nach der zweiten Impfung deutlich langsamer. Allerdings wusste man schon früh in der Corona-Pandemie, dass die Menge der nachweisbaren Antikörper für den Immunschutz wenig aussagekräftig ist.

Wichtig ist auch, dass sich im Blut bestimmte B- und T-Zellen herausbilden – diese zerstören vom Virus befallene Zellen und unterstützen wie ein Immungedächtnis die Bildung der Antikörper. Beruhigend ist die Erkenntnis, dass bisherige Virusvarianten einschließlich Delta den T-Zellen offenbar nicht entkommen. Allerdings gibt es bisher kein standardisiertes Verfahren zu ihrer Ermittlung. Es gehe um »sehr aufwendige zelluläre Tests, die nicht flächendeckend eingesetzt werden und speziellen Fragestellungen vorbehalten sind«, heißt es vom Verein der akkreditierten Labore in der Medizin. Neben diesem technischen Problem gibt es dazu auch noch keine Daten aus den klinischen Studien der Hersteller, sondern lediglich erste Beobachtungen aus einzelnen Ländern.

Maike Hofmann, Arbeitsgruppenleiterin im Translational experimental immunology lab am Universitätsklinikum Freiburg, sagt: »Wir können die Frage bisher nicht beantworten, wie lange der Immunschutz anhält.« In einer von ihr geleiteten Studie über die zelluläre Immunantwort bei einer Biontech-Impfung konnten vollfunktionale T-Zellen schon kurz nach der ersten Impfung nachgewiesen werden. Nach der zweiten gebe es einen Anstieg, drei Monate später sei ein leichter Rückgang feststellbar gewesen. Längerfristige Erkenntnisse gebe es noch nicht.

Dass es sinnvoll ist, bestimmten Risikogruppen einen zweiten Booster zu geben, ist unumstritten. Immunologe Sander sagt, diese sprächen schlechter auf die zweite Impfung an, und auch die T-Zell-Antwort sei reduziert. »Es kann daher aus medizinischen Gründen sinnvoll sein, bestimmten Gruppen eine zusätzliche Impfung anzubieten.«

Wie ist es mit einer Drittimpfung bei Astra-Zeneca? Christine Dahlke, Infektionsimmunologin vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, sagt, die T-Zell-Antwort sei gut, aber es gebe eine schwächere Antikörperbildung. »Für das Infektionsgeschehen kann es daher sinnvoll sein, noch einmal zu impfen, aber nicht unbedingt alle sofort.« Man müsse zudem berücksichtigen, dass es viele Länder gebe, wo bisher kaum geimpft werden konnte. Dort könnten neue, noch infektiösere Varianten entstehen. »Es kann uns treffen, wenn wir nicht global denken«, meint Dahlke.

Von einem »ethischen Dilemma« spricht Sander: Einerseits gehe es um ärztliche Fürsorge hierzulande, andererseits gebe es eine »humanitäre Verpflichtung anderen Ländern gegenüber«.

An diese appelliert auch der Chef der Weltgesundheitsorganisation, Tedros Adhanom Ghebreyesus: Er forderte jetzt, dass bereits begonnene Auffrischimpfungen bis mindestens Ende September ausgesetzt werden, bis mindestens zehn Prozent der Menschen in allen Ländern der Welt geimpft seien.

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