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- Klimaprotest
Hungern für ein Gespräch
Protestforscher Simon Teune über die gewaltfreie Radikalität der Klimagerechtigkeitsbewegung
Im Zusammenhang mit dem »Hungerstreik der letzten Generation«, mit dem sieben Klimaaktivist*innen in Berlin fast vier Wochen gegen die Klimapolitik der Regierung demonstrierten, wurde viel über eine Radikalisierung der Klimabewegung gesprochen. »Radikal« bedeutet eigentlich »an die Wurzeln gehen«. Was heißt »Radikalisierung« - und ist die Klimabewegung radikal?
Im politischen Diskurs wird mit »Radikalisierung« oft suggeriert, dass Gewalt als ein Aktionsmittel akzeptiert und genutzt wird. Das ist bei der Klimabewegung nicht zu beobachten. Aber eine radikale Haltung kann notwendig sein, um schwerwiegende gesellschaftliche Probleme zu lösen. Die Klimabewegung ist schon immer insofern radikal gewesen, als dass sie deutlich macht, dass das politisch-ökonomische System, in dem wir leben, die planetaren Grenzen ignoriert und dass wir deshalb eine gesellschaftliche Transformation brauchen. Das wird zugespitzt dadurch, dass die Klimabewegung in einem sehr kleinen Zeitfenster sehr grundlegende Veränderungen herbeiführen möchte. Vor dem Hintergrund ist es umso erstaunlicher, dass Gewalt bislang nicht ins Spiel gebracht wurde. Bei den Aktionen von Ende Gelände gibt es eine Zuspitzung, aber auch klare Grenzen durch einen Aktionskonsens, der Eskalationen von Seiten der Protestierenden ausschließt. Das ist etwas Besonderes in der Geschichte sozialer Bewegungen. Deshalb ist es eigentlich ironisch, dass Klimaaktivist*innen immer stärker kriminalisiert werden.
Simon Teune ist politischer Soziologe mit dem Schwerpunkt Protest- und Bewegungsforschung am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung IASS in Potsdam. Zusammen mit anderen Kolleg*innen betreibt er Ad-hoc-Forschung zu aktuellen Protesten. 2013 promovierte er an der Freien Universität Berlin über Protest-Rationalitäten. Im vergangenen Jahr widmete er sich unter anderem dem zivilen Ungehorsam des Schulstreiks der Fridays-for-Future-Bewegung. Mit ihm sprach Louisa Theresa Braun.
Ist denn der Hungerstreik in diesem Sinne radikal?
Er ist total radikal, weil er das eigene Leben aufs Spiel setzt. Und das macht im Grunde deutlich, dass die Klimakrise von den Menschen aus der Klimabewegung als existenziell wahrgenommen wird. Und dass die Mittel, die bis jetzt genutzt worden sind, offensichtlich nicht ausreichen, um den gewünschten Wandel herbeizuführen. Der Hungerstreik war bei vielen Beteiligten das Ende einer Skala von einer persönlichen Protestgeschichte, die mit Demonstrationen begann und mit zivilem Ungehorsam gesteigert wurde.
Es schien aber eine sehr große Diskrepanz zu geben zwischen der radikalen Protestform des Hungerstreiks und der Forderung nach einem Gespräch mit Politiker*innen, das offenbar noch ein Grundvertrauen in die Politik zum Ausdruck bringt.
Die Forderung steht in der Tradition einer Haltung, die an politisch Verantwortliche appelliert, und das ist in der Klimathematik ja auch schwer anders vorstellbar. Obwohl die Appelle in der Vergangenheit nur sehr unbefriedigend angegangen wurden, ist das nach wie vor der Adressat der Proteste. Die Politik muss die richtigen Rahmenbedingungen schaffen.
Zwei der Aktivist*innen haben letztlich durch den trockenen Hungerstreik eine Gesprächszusage von Olaf Scholz bekommen. Unabhängig davon haben sie alle unglaublich große mediale Aufmerksamkeit erhalten. Würden Sie sagen, das war ein Erfolg?
Das ist immer ein strategisches Ziel, durch den Hungerstreik die öffentliche Debatte anzuschieben, den Druck zu erhöhen. Das ist mit Sicherheit gelungen. Deshalb ist der Hungerstreik auch nicht erfolglos, wenn man aufhört zu hungern, ohne seine Forderungen erreicht zu haben. Es ist in vielen Fällen so, dass die Forderungen von Hungerstreiks nicht erfüllt wurden, wenn man zum Beispiel an die Hungerstreiks von Geflüchteten denkt. Der Hungerstreik ist am Ende zwar ein verzweifeltes Mittel, aber nicht unbedingt ein effektives. Allerdings ist der Hungerstreik sowohl nach außen gerichtet als auch nach innen in die Bewegung. Es geht auch darum, dass die Aktivist*innen sich eins fühlen können mit der Situation, dadurch dass sie dem moralischen Druck, den sie spüren, einen Ausdruck geben können.
Was durch die öffentliche Solidarität passiert ist. Viele Menschen haben die Hungerstreikenden unterstützt oder aus Solidarität einige Tage mitgehungert.
Ja, das hat dann schon fast etwas Religiöses, sich als Teil der Gruppe und im Einklang mit sich selbst zu verstehen.
Die heutige Klimagerechtigkeitsbewegung knüpft an die Umweltbewegung der 1970er Jahre an, in der auch Greenpeace und die Grünen gegründet wurden, die damals als radikal galten, heute eher nicht mehr. Können Nichtregierungsorganisationen und Parteien noch als Teil der Bewegung betrachtet werden, oder ist Institutionalisierung das Ende einer Bewegung?
Da ist die Frage, welchen Bewegungsbegriff man anlegt. Bei einem erweiterten Begriff von sozialen Bewegungen werden Bündnispartner einbezogen, dann wären die Grünen sicher auch Teil der Klimabewegung, und ich finde, das ist eine sinnvolle Definition. Die Grüne Jugend ist ein gutes Beispiel für eine Organisation, die sowohl in der Logik der Partei als auch in der einer Bewegung funktioniert. Und andersherum gibt es auch Menschen aus der Klimabewegung, die in Parteien reingehen, um in den Parlamenten zu erreichen, was sie auf der Straße gefordert haben. Da findet also auch eine Institutionalisierung statt. Deshalb würde ich aber nicht sagen, dass die Bewegung beendet ist, sondern das ist eher eine neue Entwicklungsstufe.
Die heutige Klimagerechtigkeitsbewegung ist intersektional, bezieht also verschiedene Diskriminierungsformen wie Rassismus und Sexismus mit ein. In der früheren Umweltbewegung gab es bereits Überschneidungen mit der zweiten deutschen Frauenbewegung. Hat sich daraus Intersektionalität entwickelt?
Früher gab es vor allem eine Verbindung von feministischen und anderen Kämpfen. Auch wenn es schon Gruppen gab, die außerdem antirassistische Positionen eingebracht haben, hatten die nicht das gleiche Gewicht wie heute. Ein breiteres Bewusstsein für die Verschränkung von Diskriminierungsformen hat sich erst später entwickelt. Gerade die Umweltbewegung hat eine sehr steile Lernkurve, was rassistische Machtverhältnisse angeht. Sie ist sehr lange eine sehr weiße Bewegung gewesen und das hat sich in den letzten zwei bis drei Jahren stark verändert. Es gibt ein größeres Bewusstsein in den Organisationen, aber auch ein stärkeres Drängen von Klimaaktivist*innen of Color, berücksichtigt, gesehen und repräsentiert zu werden. Langsam wächst auch das Verständnis dafür, dass, wenn man Klimapolitik global denkt, koloniale Kontinuitäten mitgedacht werden müssen.
Die Klimagerechtigkeitsbewegung ist außerdem sehr akademisch geprägt. Was wäre Ihre Erklärung dafür?
Soziale Bewegungen sind im Allgemeinen sehr stark durch weiße bildungsbürgerliche Milieus dominiert. Es gibt in Deutschland keine starke Tradition von Protesten durch von Armut betroffenen oder prekär arbeitende Menschen. Wenn schon die Problemanalyse in einer sehr akademischen Sprache aufbereitet wird und die Zeiten so organisiert sind, dass man sich als Schichtarbeiter*in nicht beteiligen kann, dann gehen diese Proteste eben sehr häufig von einer weißen akademischen Normalität aus.
Können Sie eine Prognose abgeben, wie sich die Klimagerechtigkeitsbewegung weiter entwickelt? Wird sie den Gang durch die Institutionen antreten oder sich weiter radikalisieren?
Eine mögliche Entwicklung ist tatsächlich eine Form der Radikalisierung in die Gewalt, wenn sich politisch nicht viel ändert. Wenn sich jetzt ein Worst-Case-Szenario abzeichnet: Die Grünen gehen eine Koalition mit CDU und FDP ein und können aus ihrem klimapolitischen Programm nur wenig umsetzen, dann kann es gut sein, dass das in Teilen der Klimabewegung noch einmal neue Diskussionen anregt, ob man nicht andere Mittel braucht, um Druck auszuüben auf die Verantwortlichen. Zum jetzigen Zeitpunkt halte ich das nicht für sehr wahrscheinlich, aber ich würde es auch nicht ausschließen. Gleichzeitig kann es auch eine stärkere Anpassung an die Logik politischer Institutionen geben. Im Moment sehe ich noch nicht, dass die Trennung in radikale und moderate Strategien zu großen Spaltungen führt, aber das könnte natürlich irgendwann der Fall sein. Wenn die Leute aus der Klimabewegung dann in den Parlamenten sitzen und sagen: Politik heißt Kompromisse schließen, dann ist durchaus vorstellbar, dass andere sagen: Ihr verkauft die Klimabewegung. Das wäre eine Entwicklung, die öfter in anderen Bewegungen zu beobachten war, von der sozialistischen bis zur globalisierungskritischen Bewegung.
Sehen Sie denn die Herausforderungen und Gefahren der Klimakrise bei der heutigen Klimagerechtigkeitsbewegung in guten Händen?
Ich bin immer wieder beeindruckt davon, wie gut vorbereitet Klimaaktivist*innen in die politische Auseinandersetzung gehen. Sie haben starke Argumente und es gibt keine ideologische Aufladung. Es gibt die Erkenntnis, dass es einen Systemwandel braucht, aber was an der Stelle dieses Systems stehen soll, davon gibt es keine feste Vorstellung. Und auch was das Bilden von Bündnissen und den Umgang mit Kritik angeht, ist die Klimabewegung eine erstaunlich reflektierte Bewegung. Das kommt natürlich auch aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Generationen heraus. Wir haben die Energie der Jüngsten, die die Proteste anschieben und wir haben das organisatorische Wissen und die Ressourcen der älteren Generation, die in Organisationen oder Parteien sitzt. Das läuft in dem Fall sehr gut zusammen. Mir fallen nicht viele Beispiele ein für eine so friktionsarme Bewegung. Die Klimabewegung hat schon dazu geführt, dass der gesellschaftliche Druck extrem angestiegen ist. Die Ausgangssituation hat sich also sehr stark verändert. Das ist nur deswegen so, weil die Klimabewegung das Thema mit Wucht auf die Tagesordnung setzen konnte und gleichzeitig in die Breite gewirkt hat. Das ist ein Erfolg.
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