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  • Nach der Bundestagswahl 2021

In Zukunft linke Mehrheiten

Eigentlich müsste jetzt Olaf Scholz eine Minderheitsregierung bilden - oder? Plus drei weitere Vorschläge

  • Tom Wohlfarth
  • Lesedauer: 6 Min.

Es war eine historische Chance. Der überraschende Wahlsieg von Olaf Scholz und der SPD hätte zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine Regierungsbeteiligung der Linkspartei auf Bundesebene mit sich bringen können - in der Farbvariante Rot-Grün-Rot das inhaltlich stimmigste und damit potenziell stabilste, außerdem das beliebteste aller theoretisch möglichen Dreierbündnisse. Doch Die Linke hat sehr stark verloren, ihr Ergebnis von 2017 fast halbiert und mit 4,9 Prozent der Stimmen den Einzug in den Bundestag nur dank ihrer Direktmandate geschafft - von denen sie allerdings ebenfalls zwei verloren hat.

Wenn aber jetzt nach der Wahl diese herbe Niederlage in ausschließlich zerknirschter, kritischer wie selbstkritischer Perspektive reflektiert wird, kommt ein zentraler Aspekt dabei meist zu kurz: Viele der 820 000 vormaligen Linke-Wähler, die dieses Mal die SPD gewählt haben, dürften dies nicht allein aus Enttäuschung über die Linkspartei und in Hoffnung auf den Sozialpolitiker Olaf Scholz getan haben. Vielmehr werden viele mit ihrer Stimme schlicht auch versucht haben, der SPD zu dem in unverhofft greifbare Nähe gerückten Sieg zu verhelfen und dadurch eine Regierungsbeteiligung der Linken in einer rot-grün-roten Koalition überhaupt erst möglich zu machen. Das Erste gelang, tragischerweise freilich nur um den Preis des Zweiten.

Es war eine große Chance, den historischen Stachel zu ziehen, der in Deutschland seit 2005 im linken Lager steckte, als Oskar Lafontaine, frisch aus der SPD ausgetreten, dieser empfindlich viele Stimmen für die neu entstandene Die Linke.PDS abluchste, dadurch Rot-Grün beendete und Angela Merkel an die Macht brachte. Dafür hat Die Linke nun gewissermaßen Abbitte geleistet, keine Partei hat bei dieser Wahl einen so großen Anteil ihrer Stimmen an die SPD abgegeben wie sie. Doch ja, natürlich gelang es ihr gleichzeitig viel zu wenig, neue Wähler für sich zu mobilisieren. Im Ergebnis fehlen nun fünf Sitze für eine linke Mehrheit im Bundestag, und das Land wird sich einmal mehr mit Koalitionszumutungen »in der Mitte« herumschlagen müssen, bei denen schon jetzt klar ist, dass ihnen die wichtigsten Themen als Erstes zum Opfer fallen werden.

Wie entsprechend unpopulär die nun möglichen Mehrheits-Dreierbündnisse in der Bevölkerung sind, ließ am Wahlabend selbst professionelle Beobachter ratlos zurück. In der Sendung von Anne Will rätselte gemeinsam mit der Moderatorin etwa Kristina Dunz vom Redaktionsnetzwerk Deutschland, wie es eigentlich sein könne, dass mit 29 Prozent Zustimmung selbst eine Fortsetzung der Großen Koalition populärer wäre als sowohl Ampel (23) wie auch Jamaika (20), wie Infratest dimap ermittelte. Was bei all diesem Unverständnis aber nun unter den Tisch fällt, ist die Tatsache, dass dem vermeintlichen Skandalon oder gar befürchteten nationalen Untergang zum Trotz vor der Wahl eine rot-grün-rote Koalition mit ganzen 37 Prozent Zustimmung das weitaus beliebtere Dreierbündnis gewesen wäre, wie die Forschungsgruppe Wahlen feststellte.

Ähnlich rätselhaft ist es, wenn in derselben Sendung dem SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil eine Umfrage von Infratest dimap vorgelegt wird, wonach 50 Prozent der Deutschen sich eine von der SPD geführte Koalition wünschen (CDU: 29 Prozent), verbunden mit der Frage, warum die SPD das nicht wirklich für ihr Wahlergebnis nutzen konnte. Viel eher wäre hier doch der unmittelbar neben Klingbeil sitzende CDU-Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Reiner Haseloff, zu fragen, wie angesichts solcher Zahlen Armin Laschet ernsthaft noch den Anspruch erheben kann, zu Sondierungsgesprächen zu laden.

Das unmittelbar nach den ersten Hochrechnungen einsetzende Gebrabbel und Gehacke darum, wer genau jetzt mit wem in welcher Reihenfolge sondieren sollte, macht doch vor allem eines klar: Eigentlich müsste jetzt Olaf Scholz eine Minderheitsregierung mit Grünen und Linkspartei bilden. Die Gründe dafür hat auch Stephan Hebel im »Freitag« schon ausbuchstabiert: Eine notdürftig gebildete Mehrheitskoalition bringt nur scheinbar Stabilität, in Wahrheit bedeutet sie Stillstand. Eine programmatisch einige Minderheitsregierung sucht sich wechselnde Mehrheiten zu konkreten Themen, ohne dass vorher schon sämtliche wichtigen Fragen aus dem Korsett eines kompromittierten Koalitionsvertrags hätten herausfallen müssen. Das belebt die Demokratie.

Doch leider ist eine linke Minderheitsregierung im notorisch experimentierscheuen Deutschen Bundestag momentan in etwa so wahrscheinlich wie ein Kanzler Kevin Kühnert. Zum Glück gibt es aber Möglichkeiten, auch angesichts einer zunehmend fragmentierten Parteienlandschaft linke Mehrheiten zu bilden und dadurch den ebenso weit verbreiteten wie gesellschaftlich notwendigen Wunsch nach sozialökologischer Transformation auch im Parlament angemessen abzubilden. Hier also einige Vorschläge, wie eine nächste Bundesregierung - egal wie sie aussehen wird - zunächst einmal unser Wahlsystem fit für das machen könnte, was sich heutzutage ja ausnahmslos alle Parteien gerne auf die Fahne schreiben: die Zukunft.

Einführung eines Kinder- und Familienwahlrechts

Deutschland wird unerbittlich älter. Schon jetzt sind wir das älteste Land Europas, weltweit sind nur noch die Japaner älter. Und diese Entwicklung wird sich noch verschärfen - die geburtenstärksten Jahrgänge stehen gerade erst vor dem Rentenalter. Unsere Politik ist also mit dem Dilemma konfrontiert, dass sie bei Wahlen vor allem von denjenigen bestimmt wird, die mit ihren Folgen weit weniger lange werden leben müssen als viele andere. Umgekehrt haben gerade diejenigen, die am längsten damit leben müssen, überhaupt keine Stimme: Kinder und Jugendliche.

Ein Wahlrecht, das Familien für jedes noch nicht wahlberechtigte Kind eine entsprechend zusätzliche Stimme gäbe, würde dieses eklatant zukunftsfeindliche Ungleichgewicht aufheben. Damit wäre dafür gesorgt, dass die Anliegen von Menschen, die sich heutzutage am ehesten mit Zukunftsfragen auseinandersetzen müssen, weil sie am längsten davon betroffen sein werden, überhaupt erst angemessen berücksichtigt werden könnten. Bei welchen Parteien diese Menschen dann am ehesten ihr Kreuz machen würden und bei welchen nicht, kann man sich in etwa ausrechnen.

Absenken des Wahlalters auf 16 Jahre

Ja, zugegeben: Bei den Erstwählern liegt knapp auf dem ersten Platz die FDP, laut Infratest dimap mit 23 Prozent. Den Liberalen gelingt es offenbar sehr gut, einer vollständig in der digitalen Ökonomie aufgewachsenen Generation den Neoliberalismus immer noch als begehrenswerten - oder auch nur erreichbaren - Lifestyle zu verkaufen. Doch gleich an zweiter Stelle folgen mit 22 Prozent die Grünen. Bei den unter 30-Jährigen liegen sie damit sogar vorn, die FDP kommt hier nur auf 20 Prozent, wie die Forschungsgruppe Wahlen ermittelte. Außerdem liegt bei den Jungwählern die SPD deutlich vor der CDU, Die Linke tendenziell vor der AfD. Grund genug also, ab der nächsten Bundestagswahl auch 16-Jährigen zuzutrauen, dass sie mindestens ebenso reflektiert ihre Kreuzchen machen können wie 116-Jährige.

Abschaffen der Fünf-Prozent-Hürde

Ja, unser Parteiensystem wird immer fragmentierter. Die alten Volksparteien bluten aus, bisherige Klein- und Kleinstparteien blühen auf. Doch anstatt sich dieser weltweiten Entwicklung einfach nur entgegenzustemmen, könnte man sie auch begrüßen - oder zumindest akzeptieren und zu nutzen versuchen. Ja, gerade Die Linke hat, gemessen an ihrer Größe, mehr Stimmen an nicht im Bundestag vertretene Parteien verloren als jede andere Partei. Aber dürften diese Parteien dann - wie jetzt aus Gründen des Minderheitenschutzes der Südschleswigsche Wählerverband SSW - auch unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde im Bundestag sitzen, müsste man ihre Stimmen nicht mehr notwendig als »verloren« werten, sondern könnte sie entweder in entsprechende Koalitionen einbinden oder sich als Minderheitsregierung situativ ihre Zustimmung sichern.

Ja, das wäre sicher alles ein wenig komplizierter, als es einige alteingesessene Parlamentarier gerne hätten. Aber es ist nun einmal die Welt, die eben diese Parlamentarier uns hinterlassen haben. Sie sollten sie uns nun auch überlassen. Das könnte vielleicht sogar mal wieder einige Nichtwähler mobilisieren.

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