Europas Armen droht ein kalter Winter

Die Preisexplosion bei Strom und Gas wird für Millionen EU-Bürger*innen zum existenziellen Problem

  • Fabian Lambeck
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Energiepreise explodieren derzeit in ganz Europa. Darunter leiden Arme und Geringverdiener*innen besonders stark. Schon 2019, als die Preise noch deutlich niedriger waren, konnten rund 30 Millionen Europäer*innen ihre Wohnungen nicht angemessen heizen, kritisierte das Jaques-Delors-Institut im Frühjahr dieses Jahres. Die EU-Kommission selbst geht von 34 Millionen Menschen aus, die in der Union von Energiearmut betroffen sind, denen also das Geld für eine warme Heizung und Strom fehlt. Dabei ist das Problem in Süd- und Osteuropa am gravierendsten. Aber auch in Deutschland gibt es Hunderttausende Menschen, denen alljährlich der Strom abgestellt wird, weil sie die Rechnungen nicht zahlen konnten. In der EU-Richtlinie zum Elektrizitätsbinnenmarkt aus dem Jahre 2019 heißt es zu den Gründen: »Niedrige Einkommen, hohe Energiekosten und geringe Energieeffizienz der Häuser sind wichtige Faktoren.«

Die Corona-Pandemie hat die Lage europaweit verschärft. So haben vor allem prekär Beschäftigte ihre Jobs verloren. Im Lockdown waren sie zudem gezwungen, mehr Zeit in den eigenen vier Wänden zu verbringen. Ohnehin müssen Arme einen prozentual höheren Anteil ihres Einkommens für Energie aufbringen. Wenn die Preise steigen, fehlt ihnen das Geld an anderer Stelle. Und nun steht den Betroffenen ein Winter mit Energiepreisen auf Rekordniveau bevor.

Die EU-Kommission muss also reagieren. Das Problem »Energiearmut« hat sie erkannt und bereits 2016 eine Beobachtungs- und Koordinationsstelle ins Leben gerufen. Allerdings änderte das an der Situation der Betroffenen wenig. Es gibt die oben bereits erwähnte Richtlinie aus dem Jahre 2019, die Maßnahmen auf nationaler Ebene erlaubt, »durch die schutzbedürftige und von Energiearmut betroffene Kunden begünstigt werden«, aber letztlich bleibt es den Mitgliedsstaaten überlassen, ob und wie sie das Problem angehen. Die Kommission plant einen »Klima-Sozialfonds«, der einkommensschwachen Familien helfen soll, doch wird dieser Fonds nicht vor 2025 kommen. Energiekommissarin Kadri Simson versprach Ende September »neue Leitlinien« der Kommission, die den Mitgliedstaaten helfen sollen. Denn tatsächlich sind nationale Alleingänge heikel, hat die EU doch einen gemeinsamen Energiebinnenmarkt geschaffen. Strom ist ein Handelsprodukt - von Spanien bis nach Finnland.

Der Markt sollte es richten, doch tut er das offenbar nicht. Im Gegenteil: So treiben derzeit etwa Hedgefonds die Energiepreise weiter nach oben. Das gefährdet auch den Kampf gegen den Klimawandel. Denn viele Verbraucher*innen machen den steigenden Anteil erneuerbarer Energien für die Preissteigerungen verantwortlich.

Simson präsentierte am Mittwoch ihren »Werkzeugkasten«, aus dem sich die Staaten bedienen können, um die Energiepreise zu senken. »Erwarten Sie keine radikalen Maßnahmen«, stellte ein Kolumnist des stets gut informierten Online-Portals »Politico« klar.

Und tatsächlich soll der »freie« Strommarkt nicht reguliert werden: »Kein alternatives Marktmodell würde jetzt niedrigere Preise liefern«, betonte Kommissarin Simson. Die Mitgliedstaaten selbst sollten stattdessen aktiv werden, indem sie etwa Steuern und Abgaben senken.

Einkommensschwache Haushalte können demnach auch Gutscheine erhalten, die mit den Einnahmen aus dem Emissionshandelssystem finanziert werden. Zudem können die Länder den Verbraucher*innen einen Zahlungsaufschub für Strom gewähren. Damit lässt die Kommission die Staaten Südosteuropas, denen das nötige Geld für solche Hilfsleistungen fehlt, weitgehend allein. Zumal das alles nicht neu ist, sondern so ähnlich bereits in der EU-Richtlinie aus dem Jahre 2019 steht. Immerhin: bis Ende des Jahres will Simson eine Reform des Gasmarktes vorschlagen. Die EU soll mehr in Lagerkapazitäten investieren und so strategische Gasreserven anlegen. Dabei hält sich Deutschland auffallend zurück. Der mächtigste EU-Staat sieht keinen Handlungsbedarf.

Andere Regierungen haben dagegen bereits reagiert. So hat Spanien die Mehrwertsteuer auf Strom gesenkt und auch Italien reduziert die Energiesteuern. Frankreich deckelt die Preise für Strom und Gas, zudem sollen dort sechs Millionen Haushalte mit geringem Einkommen einen Energie-Scheck über 100 Euro erhalten. Doch das alles sind letztlich bloß Einzelmaßnahmen, es fehlt an einer europaweiten Strategie.

Deshalb fordern Spanien, Frankreich, Griechenland und Italien eine gemeinsame Antwort der EU-Staaten. Die Regierungen befürchten, dass die Energiepreise dauerhaft hoch bleiben. Die EU-Kommission hält die Preisexplosion jedoch für ein vorübergehendes Problem. EU-Energiekommissarin Kadri Simson räumte dennoch ein: »Die Gaspreise werden den ganzen Winter über hoch bleiben.« Keine guten Aussichten, vor allem, weil der Strompreis an den Gaspreis gekoppelt ist. Gaskraftwerke bestimmen die Preise auf dem Strommarkt, weil sie schnell hochgefahren werden können, um Spitzen abzudecken. Deshalb fordert das Atomstromland Frankreich, den Strompreis künftig vom Gaspreis zu lösen.

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