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Wider leere Worte am falschen Orte

Liza Candidi über Gedächtnisräume im postsozialistischen Berlin

  • Horst Groschopp
  • Lesedauer: 4 Min.

Erst kürzlich hat die US-amerikanische Philosophin Susan Neiman beim Vergleich der Vergangenheitsaufarbeitung in den USA und in den ehemals beiden deutschen Staaten - wie diese »mit dem Bösen in ihrer Geschichte« umgingen - die DDR gelobt, entgegen diversen anderslautenden Urteilen. Doch wie sieht es mit den Erinnerungen an den vergangenen ostdeutschen Staat in der heutigen Öffentlichkeit aus? Erscheint sie da nicht immer noch als das Böse schlechthin, wie die offizielle Geschichtsschreibung westdeutscher Provenienz seit 30 Jahren suggeriert?

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Liza Candidi: Orte und Worte. Gedächtnisräume im postsozialistischen Berlin.
Zambon, 398 S., br., 28 €.

Liza Candidi, Ethnologin, die an der Berliner Humboldt-Universität promovierte, untersucht die verschiedenen Formen und Ausdrucksweisen des Gedächtnisses in Bezug auf die DDR in der neuen/alten deutschen Hauptstadt. Die Dynamiken der öffentlichen institutionellen Erinnerung werden mit individuellen Gedächtnisstrategien verglichen. Der interdisziplinäre Ansatz der Autorin entdeckt Spuren in der Stadt, die über die gemeinhin bekannten Repräsentationen hinausreichen. Sie stellt zahlreiche, teils sehr private DDR-Bilder vor: Fast 250 Interviews gaben ihr intime Einblicke in fünf »Gedächtnisräume«, die die aktuelle erinnerungspolitische Ordnung konstituieren: das städtische, das museale, das institutionelle, das mediale und schließlich das private Gedächtnis. Damit sind fünf Gegenstände der sechs Kapitel des Werkes bezeichnet.

Eine ethnologische Studie muss in die realen Erscheinungsweisen des Kulturellen eintauchen. Sie überzeichnet nicht nachträglich »kämpfende« Prinzipien oder Theorien, sondern schaut auf das Untergründige der großen Linien, wie sie sich zeigen und was sie deuten wollen bzw. sollen. Sie sind keine Illustrationen, etwa der Beseitigung der Folgen einer Diktatur oder Folgen einer »Friedlichen Revolution« (die Autorin bleibt beim Begriff der »Wende«), sondern Bilder und Worte, Ausdrücke des Lebens selbst.

Vielleicht liegt das Besondere des hiesigen Blickes auch darin, dass die Autorin Italienerin ist und wenig befangen in deutsch-deutschen Befindlichkeiten. Das zeigt sich besonders in ihrer Analyse der offiziellen »Einrichtungen des Erinnerns«, etwa des Umgangs mit den Stasi-Unterlagen und wie hier die »Geschichte der Besiegten« vorgeführt wird.

Den Wandel des städtischen Gedächtnisses erzählt Candidi am Ersatz des Palastes der Republik durch den Neubau des Stadtschlosses der Hohenzollern, das die versuchte Rückkehr nach Preußen symbolisiere. Auch die massenhaften Straßenumbenennungen (von Babeuf bis Zetkin) seien Versuche, ein bestimmtes Gedächtnis auszulöschen und eine »Demütigung des Ostens« (Daniela Dahn) baulich dauerhaft zu markieren.

Candidi geht auf die Mauer-Wander- und -Radwege ein und auf die schändliche Verhökerung des Kulturparks Plänterwald. Ein Reiz ihrer Darstellung besteht in der Beschreibung von Widerständigkeiten gegen die neue Erinnerungskultur und die gezielte Beseitigung alter Symbole, aber auch in den Schilderungen spontaner Aneignungen des Alten und Neuen durch öffentliche Zeichen, etwa Graffitis, wie das berühmteste, gesprüht an Mauerreste des Palastes: »Die DDR hat es nie gegeben.«

Auch die Änderungen der musealen Landschaft erhalten eine dialektische Beschreibung. Dabei geht Candidi auf den Spagat aller Ausstellungen ein, ein Bild der DDR zwischen Parteidiktatur und Alltag zu zeichnen - ein Unterfangen, das in aller Regel misslingt, weil den Akteuren ideologisch klar vor Augen steht, was »Parteidiktatur« bedeutet und was dann in den Alltagsschilderungen zu erscheinen hat, als wäre sie darin tatsächlich so vorgekommen.

Die Autorin druckt einige bissige Kommentare von Besuchern besonders zum Deutschen Historischen Museum, beschreibt den Checkpoint Charly und »Unterdrückungsmuseen«, die sich dem Wirken der Staatssicherheit widmen. Candidi schließt sich weitgehend den Urteilen an, die mehr wissenschaftliche Akribie verlangen. In seinem Nachwort findet dazu auch Stefano Boni deutliche Worte; er fordert nicht nur eine Gleichbehandlung von »Ossis« und »Wessis«, sondern eine wirkliche Aufarbeitung der Kolonisierung Ostdeutschlands.

Liza Candidi diskutiert zudem, wie Erinnerungen, die stets subjektiv sind, für ein objektivierbares Gedächtnis gewonnen werden können. Es könne zwar »keine abstrakte Verallgemeinerung einer jeweils persönlichen Wirklichkeit« erzielt werden. Dennoch seien Zeitzeugenberichte einer möglichst repräsentativen Zielgruppe sehr aufschlussreich.

Abschließend ist hervorzuheben, dass Liza Candidi sehr einfühlsam mit persönlichen Quellen umgeht, so unterschiedlich deren Sichtweisen auch sein mögen. Zweitens fällt dem kritischen Blick dann doch auf, dass ein wesentliches Charakteristikum Ostdeutschlands und auch Ostberlins fehlt: deren mehrheitlich religionsferne Feste und Feiern (etwa Jugendweihen), praktiziert an verschwundenen Orten (Kulturhäuser, Klubs). Und drittens verdeutlicht die Bündelung der von Liza Candidi herausgefilterten Eingriffe in institutionalisierte Gedächtnisräume eine massive Entwertung in der DDR gelebten Lebens. Die süßlichen Sonntagsreden führender Politiker rund um die Jahrestage der deutschen Einheit sind da nur leere Worte.

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