Chassidisch und verlassen

Galizische Nächte und die Geschichte einer Auswanderung: »Polen/1931« von Jerome Rothenberg

  • Mario Pschera
  • Lesedauer: 4 Min.

Oh, glückliches Amerika! In deinem Tiegel verschmilzt der Strom dürstender Seelen nach Freiheit oder Brot, der Gewissens- und Wirtschaftsflüchtlinge aus einem verkommenen Europa, das an seinen Despotien krankt. Nimm dein Schicksal in die eigenen Hände, Platz genug für alle ist in diesem Amerika.

So weit die Theorie. In Wahrheit war das ein ziemliches Gedränge, schon auf den Schiffen gen Westen, und Platz machen mussten erst die anderen, denen einst das Land gehörte. Und es machte einen Unterschied, ob man auf der »Mayflower« einreiste oder sich vor den dicht umlagerten Schaltern der Einwanderungsbehörde anstellen musste. Und dass die Nachfahren der »Pilger« den innigen Wunsch hatten, mit Iren und Juden in einem Pot zu verschmelzen, dürfte bezweifelt werden. Ein Jeder nahm sein Päckchen mit, seine Geschichte.

Jerome Rothenberg, 1931 in New York geboren, machte sich in den 80er Jahren auf nach Polen, auf eine Spurensuche, nach dem Land seiner Eltern. Eine sentimentale Reise ist es nicht geworden, eher der Versuch einer ethnografischen Erkundung neuerer Art, die alles aufnimmt: Farben, Gerüche, Klänge, das Licht und das Dunkel. Für die Freund*innen woker Sachverhaltsbeschreibungen muss an dieser Stelle ein Warnhinweis ausgegeben werden: Dieses Polen ist räudig, es mieft und stinkt, es wird gefressen und geschissen, gefickt und gestorben.

»Der Rabbi wird unter euren Frauen auf & ab gehen / & wird reden von einer späten Geburt / An den einen Tagen wird er zocken / An den anderen lernen wie man bei den Polen bumst.« Der Dichter träumt sich erst in ein kampferumnebeltes Schtetl, und schon setzen Filmaufnahmen in Schwarzweiß ein: die Knuten der Kosaken, die Beamten, die den jüdischen Mädchen an die Röcke gehen, die kichernde Großmutter, die sich selbst »das Häutchen wässert«, müde Männer mit hängenden Schultern. Aus gegenläufigen Reden, Zeugnis wider Zeugnis springen Geschichten, die Anrufung der Propheten und fleischlicher Exzess. Enge Stuben, Töpfe und Pfannen, rituelle Vorschriften und Zahlenmystik, auf das Alltagsgeschäft gebogen. Magische Wortreihen und immer wieder Buchweisheit.

Die Zeit scheint in einer Schleife zu gehen, winzige Details künden von etwas, was diese Welt überrollen, alle bisherige Drangsal in den Schatten stellen wird. Nur wenige Jahre später wird das polnische Jiddisch eine Sprache der Ausgerotteten, der Erschlagenen und Verbrannten sein. Es ist bemerkenswert, wie dieses polnische Jiddisch über das Amerikanische ins Deutsche übersetzt wurde - der Text wird durch das amerikanische Original annotierend begleitet.

Etwa in der Hälfte des Buches blickt uns eine Mme. Shekhina von einer ganzseitigen Affiche entgegen. Madame ist Seelenheilerin und Geistervertreiberin in New York. Damit beginnt die Geschichte von Kindheit und Jugend der Esther K., der späteren Auswanderin. »Was für ein Täubchen die Esther K.«, die tut, was sie tut, und einen Brief bekommt aus dem fernen China. Ein neues gesegnetes Land, wie so viele schon, und vielleicht ist dort der verlorene Stamm Ascher angelandet, und ein Mann wird ihr versprochen, so steht in dem Brief, den sie abschreiben und an sechs Freundinnen schicken soll, widrigenfalls ein Unglück geschehe. Glauben muss man dem Brief nicht, aber die Reise beginnt - nach Warschau, nach Europa, übers Meer, Havanna, irgendwo ist immer ein Platz. Denn sie trifft Leo, den falschen Propheten.

Und Esther K. kommt nach Amerika. Ein Versprechen, ein Aufstieg. Das Kino, schicke Schuhe, Meyer Lansky, Freiheit. Und es wird ein neues, ein anderes Ghetto, immerhin elektrisch erleuchtet. Das, was ein Charlie Chaplin dem aufmerksamen Betrachter vorführt, nur in skurril-lustig.

»kam ich sattelwund / ein jude unter / die indianer / wos makh ikh do an dem verrikter ort / bei al di lajtn mit verrickter ojgn / s könnte Ärger geben / könnte’s könnte’s / (sagt er) ein Schatten …«, die Menschmaschinerie hinter den Glitzerfassaden, die Postreiter und Indianerschlächter, Goldsucher, das sind die Immigranten, die in ihrer Mehrheit nicht ankommen, nicht jetzt, später vielleicht einmal.

Jerome Rothenberg, dem frühen Übersetzer von Paul Celan, ist ein furioses Stück gelungen, etwas, was er selbst als Ethnopoetry bezeichnet: die Aufnahme und Amalgamierung von Überlieferungen, Volksliedern, Straßenaufnahmen bis hin zur Übersetzung aus dem Navajo. Rasant und rhythmisch ist sein Text - ausdrücklich performativ. Das gedruckte »Poyln/1931«gibt es dank des Verlegers Urs Engeler, nun fehlt noch die Truppe, die das gesprochene Poem auf die Bühne bringt. Es täte sich lohnen.

Jerome Rothenberg: Polen/1931. Hrsg. und übers. a. d. amerik. Engl. v. Norbert Lange. Roughbooks, 232 S., kt., 14 €.

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