- Politik
- Linke, Krieg und Frieden
Das globale Dorf ist zerbrechlich
Konfliktszenario Ukraine - welche Auswege gibt es aus Krieg und Krise? Eine diskursive Ost-West-Annäherung
Burkhardt Otto: Wir waren gemeinsam in der Ukraine und sind uns einig, dass der Angriff Putins auf dieses Land einen Tabubruch darstellt. Das konnte niemand in dieser Weise voraussehen und das lässt niemanden unberührt. Es wird geschossen, Menschen sterben. Doch wie soll die Lösung des Problems aussehen? Ich habe den Eindruck, dass wir verschiedene Ebenen verschränken müssen, wenn wir uns dem Konflikt annähern.
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine stellt die Linke vor neue Fragen. Die Linkspartei und die gesellschaftliche Linke überhaupt. Nato, EU, Uno, Russland, Waffenlieferungen, Sanktionen – dies sind einige Stichworte eines Nachdenkens über bisherige Gewissheiten und neue Herausforderungen. Wir beginnen eine Debatte über »Linke, Krieg und Frieden«, die uns lange Zeit begleiten wird.
Jürgen Angelow: Der russische Angriff verstößt gegen das Prinzip der Gewaltfreiheit in den internationalen Beziehungen. Das ist scharf zu verurteilen. Putin will Konflikte durch »Selbsthilfe« lösen, das internationale Recht tritt er mit Füßen. Wenn das ein Präzedenzfall wird, rutscht die Welt auf eine schiefe Ebene, die nach unten immer glatter und steiler wird. Neue Feindbilder und gigantische Rüstungen, Regionalkonflikte und die Steigerung atomarer Risiken wären die Folge, das Ende ist unabsehbar.
B.O.: Wer führt hier eigentlich Krieg? Russland greift die Ukraine an und die Nato interveniert nicht. Befindet sich der Westen damit im Frieden? Die beschlossenen »Maßnahmenpakete« haben einen Wirtschaftskrieg eröffnet, das ist Kriegsteilnahme. Eine Wirtschaftskriegsbegeisterung durchweht Europa. Sanktionen werden zu erfolgversprechenden Offensiven und für die gerechte Sache wollen wir etwas Kriegsleid mittragen: »Frieren für die Freiheit«.
J.A.: Kriegsrhetorik im medialen Mainstream verändert schon jetzt unsere Wahrnehmungen. Wir bestätigen uns gegenseitig und beleuchten das Abgründige des Anderen. Verständlich, denn Krieg bedeutet immer Mobilisierung und Vereinfachung. Jede Seite glaubt, für eine »gerechte Sache« zu kämpfen. Militärfachleute rätseln, ob die russische oder die ukrainische Armee den Konflikt gewinnt. Das muss gebremst werden. Denn eigentlich geht es darum, eine durch Gewalt beschädigte internationale Ordnung wieder ins Lot bringen. Das »globale Dorf« ist zu zerbrechlich, wir müssen es bewahren! Wir brauchen einen Wechsel der Perspektiven, und zwar so schnell wie möglich, denn jeder gefallene Soldat, jeder umgebrachte Zivilist und jedes zerstörte Haus entfachen den Hass und entfernen uns von diesem Ziel.
B.O.: Neben den unmittelbaren Verlusten in der Ukraine sehe ich schon jetzt erhebliche globale Auswirkungen, die Verlierer stehen fest: Europa, Klima, Energieversorgung, die Bekämpfung des Hungers und globaler Pandemien, Wohlstand. Und ich will gar nicht über die transatlantischen Austauschbeziehungen reden, die jetzt ganz im amerikanischen Sinne bilanziert werden. Hintergrund sind wirtschaftliche Rivalität und unausgeglichene Außenhandelsbeziehungen. Die USA wollen Europa nicht in Abhängigkeit vom russischen Erdgas sehen, weil das ihre eigenen Energielieferungen konterkariert.
Und auch die sicherheitspolitische Partnerschaft mit den USA ist seit Donald Trump nicht mehr dieselbe. Zwar gibt uns das »Nato-Boot«, in dem wir sitzen, eine trügerische »Overkill-Sicherheit«, die ich vor 1989 aus (West-)Berliner Perspektive erlebt habe. Niemand, so glaubten wir, wird so verrückt sein, den Mechanismus der globalen Selbstzerstörung auszulösen. Doch kann man sich darauf heute noch verlassen? Mir scheint, wir sind an eine Grenze gekommen. Können wir nicht die Reset-Taste drücken und alles auf Null stellen?
J.A.: Ein Reset wäre gut, aber wie den Ausgang finden? Einvernehmlich? Wir dürfen die Rationalität der Entscheider nicht überschätzen, ihre geistige Freiheit. Die virtuelle Welt ist wirkmächtiger als die reale. Seit Putin werden in Russland die »morbiden« Jelzin-Jahre kompensiert, durch Reaktivierung kriegerischer und heroischer Konstrukte von Männlichkeit. Putins bildhafte Inszenierung als berittener Krieger steht dafür beispielhaft: »Wir sind noch wer!« Lesen wir den Krieg doch als Willenstherapie.
B.O.: Der Kult des Vaterländischen Krieges bietet einen weiteren Anknüpfungspunkt. Sei es das »Unsterbliche Regiment«, seien es Erinnerungsfeiern oder Kriegsfilme, die den Menschen Identifikation bieten. Dadurch werden Feinde auch heute zu Nazis.
J.A.: Aus Pathologien, Ängsten und Mythen erwächst Gefahr. Wir brauchen einen selbstkritischen Diskurs, der am Ende des Kalten Krieges ansetzt. Der Westen hat geglaubt, den Kalten Krieg gegen die UdSSR gewonnen zu haben, obwohl ihn beide Seiten, Schritt für Schritt, überwunden haben. Dass Gorbatschow angesichts des zunehmenden Kontrollverlustes, der immer kürzeren Vorwarnzeiten, der Fehlalarme und atomaren Unfälle Ende der 80er Jahre, die Reset-Taste gedrückt hat, imponierte mir damals in der DDR sehr. Vertrauen hätte eine neue Basis in den internationalen Beziehungen begründen können.
Das wurde im Laufe der Zeit verspielt. Die Folge waren neue Denk- und Sprechsysteme. Von George Bush sen. ist der Ausspruch überliefert: »Wieso, wir haben gewonnen und nicht die!« Eine glatte Fehlbewertung, auch wenn sie von »Atlantikern« hierzulande kolportiert wird. Die USA haben seit 1990 auf eine Osterweiterung der Nato gesetzt. Da gab es keine Abstimmung, nicht mit den europäischen Staaten und schon gar nicht mit Russland. Fehlbewertungen änderten auch die politische Praxis. Einige Zeit konnte der »russische Bär« am Nasenring vorgeführt werden, immer mit dem Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker und unsere freiheitlich-demokratischen Werte. Inzwischen sind wir ihm so dicht auf den Pelz gerückt, dass er um sich beißt.
B.O.: Demokratie und Menschenrechte werden als hohes Gut gehandelt. Aber sie gelten nicht überall. Die Anerkennung von Selbstbestimmung bedeutet doch auch Toleranz gegenüber dem Andersartigen. Der westliche Gestus der »demokratischen Missionierung« steht dem entgegen, der in Afghanistan krachend gescheitert ist. Jede Verhandlung mit der chinesischen Führung oder mit undemokratischen Regimen fängt mit dem Verweis auf Demokratie und Menschenrechten an, wobei wir durchaus flexibel sind, wenn es um wirtschaftliche Vorteile geht. Doch das westliche Narrativ wird als Fortsetzung eines kolonialistischen Führungsanspruchs aufgefasst. Von Peking war zu hören, Demokratie sei eine »Massenvernichtungswaffe, die die USA nutzen, um sich in anderen Ländern einzumischen«
J.A.: Der »westliche Wertekonsens« ist eine politisch-kulturelle Orientierung, begründet aber keinen allseits akzeptierten Handlungsrahmen auf der Beziehungsebene. Gemeinsame Interessen und Vertrauen kann es auch jenseits davon geben. Unsere Toleranz gegenüber dem Fremden ist eigentlich sehr unterentwickelt, auch wenn wir in unserer Sprache Diversität predigen. Sprache und Praktiken kollidieren. Die Welt lässt sich nicht allein mit Sprachregelungen ändern.
B.O.: Abstrusität der Bilder: Putins bizarres Geschichtsbild, ukrainische Medienhelden und ein vor Selbstgerechtigkeit triumphierendes Europa, das seine militärische Verletzlichkeit verdrängt. Wie können wir Frieden finden bei dieser emotionalen Aufladung?
J.A.: Zuviel Adrenalin. Für einen Reset müssen wir zuallererst Ruhe in das System bringen. Also Waffenstillstand an allen Kriegsfronten und zwischen allen Kriegsbeteiligten. Das bedeutet militärische Entflechtung der Kämpfer, nicht zuletzt um die Kriegsverbrechen zu stoppen und die Lage der gepeinigten Zivilbevölkerung zu entspannen. Dazu bedarf es eines Anreizes, der das Immer-weiter-siegen-Wollen weniger lohnend erscheinen lässt.
B.O.: Deshalb sollte die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen angeboten werden. Wir können Russland keine UN-Truppen entgegenstellen. Die Aussetzung von Sanktionen kann dazu beitragen, die russische Seite vor einem Gesichtsverlust zu bewahren. Zeitgleich muss die Nato Verhandlungen über ein Konzept sicherheitspolitischer Partnerschaft mit Russland aufnehmen. Es ist doch klar, dass der Kern einer Einigung nicht nur die Ukraine und Russland umfasst. Waffenstillstand kann es nur auf allen Ebenen gleichzeitig geben - also auch im Wirtschaftskrieg.
J.A.: Alexander Kluge hat den »neutralen Punkt im Gravitationsfeld« als Möglichkeitsraum für Verhandlungen ins Spiel gebracht, »den Schnittpunkt der Schmerzlinie für beide Parteien«. Das klingt abstrakt, bedeutet aber: Abschied von Maximalforderungen, Realismus bei der Suche nach Grenzen, die möglichst von allen Seiten akzeptiert werden können. Der Konflikt muss aus dem Handlungsmodus der unmittelbar Beteiligten herausgenommen werden. Er muss »objektiviert« und emotional abgerüstet werden. Das Schwierigste aber wird sein, 30 Jahre geschwundenes Vertrauen wiederherzustellen. Das geht nur schrittweise. In der Zukunft sollte die EU auf ein »Grand Design« mit Russland setzen, auf politische Kooperation und wirtschaftliche Verflechtung.
B.O.: Eine friedliche internationale Ordnung kann dauerhaft nicht durch Druck funktionieren, sie benötigt positive Anreizstrukturen. Zwar ist die russische Weltdeutung gegenwärtig inkompatibel für demokratische Wandlungsprozesse. Aber eine Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse kann auch dort nur aus sich selbst heraus erfolgen. Russland hat eine gesicherte Zukunft, ihm stehen ein fester Platz im internationalen System und die Wahrung seiner Interessen zu. Hierzu muss es konkrete Vorschläge geben, die an bisherige Versprechen glaubhaft anknüpfen.
J.A.: Wir stehen vor einer prinzipiellen Entscheidung: entweder weltweite Verflechtung, Wachstum und Wohlstand, das Ringen um gerechte Austauschbeziehungen und globale Problemlösungen. Oder Autarkie sowie wirtschaftliche und soziale Regression. Es ist ein Paradoxon: Je stärker wir »den Westen« machen, indem wir die ewige Spirale der Fehlinvestitionen in militärische Güter bedienen, anstatt jetzt in den Schutz vor der heraufziehenden Klimakatastrophe zu investieren, desto fragiler wird die menschliche Existenz insgesamt. Wir würden eine trügerische Sicherheit gewinnen. Der dadurch verursachte Tempoverlust könnte dazu führen, dass wir das Ziel der Existenzsicherung verfehlen.
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