Es gab einen Mentalitätswechsel

Der Streik-Forscher Stefan Schmalz erklärt, warum im Osten wieder mehr Arbeitskämpfe geführt werden

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 6 Min.

Sie haben einen Streikmonitor zur langfristigen Erfassung von Streikaktivitäten in Deutschland erstellt. Können Sie sagen, in welchen Bereichen hierzulande am meisten gestreikt wird?

Ich habe zusammen mit meinen Kolleg*innen weniger klassische Flächentarifauseinandersetzungen beobachtet, sondern analysiert, wo es zu realen Auseinandersetzungen kam. Die spielten sich oft auf betrieblicher Ebene ab, in Häuserkämpfen. Drei Branchen taten sich in den von uns untersuchten Jahren 2016 bis 2020 besonders hervor: Das waren das Gesundheitswesen, der Fahrzeug- und Maschinenbau sowie der Bereich Verkehr, Lagerei, Logistik. In diesen Bereichen fand fast jeder zweite von uns erfasste Konflikt statt.

Warum spielen Flächentarifauseinandersetzungen im Streikgeschehen eine immer geringere Rolle?

Der Haupttreiber für diese Entwicklung ist die Zersplitterung des deutschen Tarifsystems. Hierzulande arbeiten nur noch 43 Prozent aller Beschäftigten in Betrieben mit einem Flächentarifvertrag. In Ostdeutschland sind es sogar nur noch 32 Prozent. Dadurch gibt es eine Zweiteilung der Arbeitswelt in eine erste Regulierungswelt, die den öffentlichen Dienst und die großen Industriebetriebe wie die Automobilkonzerne umfasst, wo es noch ein intaktes Tarifsystem gibt, und eine zweite Welt, wo es keine Tarifbindung und häufig auch keine Betriebsräte gibt. Und in diesen Betrieben kracht es immer häufiger.

Sie schreiben in Ihrem Streikmonitor, dass die Arbeitskämpfe im Osten zugenommen haben. Woran liegt das?

Der wichtigste Grund ist natürlich, dass die Arbeitswelt in Ostdeutschland durch die niedrigere Tarifbindung weniger reguliert ist. Zudem spielen der demografische Faktor und der veränderte Arbeitsmarkt eine Rolle. Es gibt dort nicht mehr die Massenarbeitslosigkeit wie vor 20, 30 Jahren. Bei Arbeitslosenquoten von 5,6 beziehungsweise 5,3 Prozent in Sachsen beziehungsweise Thüringen ist die Angst vor der Arbeitslosigkeit gering.

Stefan Schmalz leitet den Streikmonitor zur langfristigen Erfassung von Streikaktivitäten in Deutschland an der Universität Erfurt
Stefan Schmalz leitet den Streikmonitor zur langfristigen Erfassung von Streikaktivitäten in Deutschland an der Universität Erfurt

Ist es also zu einem Mentalitätswechsel in der Gesellschaft gekommen?

Auf jeden Fall. Die neue Generation von Beschäftigten im Osten hat nicht mehr die Wende-Erfahrungen in den Knochen. Das spürt man vor allem auch bei den Fachkräften. Sie wollen nicht mehr zur Jobsicherung Abstriche beim Lohn und den Arbeitsbedingungen machen wie noch die Generation vor ihnen. Das sieht man auch bei den Eigenkündigungsraten. Die Beschäftigten im Osten kündigen mittlerweile viel schneller von sich aus, weil sie bessere Jobs bekommen können.

Hat sich damit auch das Machtverhältnis zwischen Kapital und Arbeit in Ostdeutschland verändert?

Auf jeden Fall feststellbar ist, dass die Menschen in Ostdeutschland häufiger den Mund aufmachen. Sie scheuen sich nicht mehr, in Konflikt mit dem Chef zu gehen. Das merkt man auch im Streikgeschehen. Während die Erwerbsbevölkerung im Osten rund 13 Prozent der gesamtdeutschen Erwerbsbevölkerung ausmacht, finden rund ein Viertel aller Arbeitskonflikte dort statt. Denn noch immer sind die Löhne im Osten niedriger als im Westen. Dies spiegelt sich auch in den Streiks wider, die in den Betrieben geführt werden. Da geht es um höhere Löhne, kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen. Das ist ein Aktionsfeld, auf dem die Gewerkschaften gut mobilisieren können. Nicht umsonst konnte die IG Metall im Bezirk Berlin-Brandenburg-Sachsen sogar in den schwierigen Pandemiejahren Mitgliederzuwächse verzeichnen.

Im Zuge der Flächentarifverhandlungen 2021 hat die Industriegewerkschaft IG Metall mit der Arbeitgeberseite eine Klausel vereinbart, die die Ost-West-Angleichung bei den Löhnen auf betrieblicher Ebene ermöglicht. Merkt man das beim Häuserkampf der IG Metall?

Das hat eine längere Geschichte. Es gibt in der Metallbranche Betriebe, in denen es schon seit Jahren brodelt. Das sind oft Zulieferbetriebe mit westdeutschem Eigentümer, wo die Löhne so gering sind, dass da teilweise noch der Mindestlohn eine Rolle spielt. Dort muss die Gewerkschaft häufig erst mal einen Fuß in die Tür bekommen, denn es gibt in solchen Firmen meist auch noch keinen Betriebsrat. Daher laufen diese Auseinandersetzungen häufig länger und härter ab. Vonseiten des Managements werden dann mitunter auch Union-Busting-Methoden angewandt.

Das klingt ähnlich wie die Arbeitskämpfe bei den bekannten Essenslieferdiensten.

Auch wenn das eine neue Branche ist, wo die Digitalisierung eine ganz andere Rolle spielt, weil der Algorithmus den Arbeitstag bestimmt, gibt es durchaus Parallelen. Schließlich geht es in beiden Arten von Häuserkämpfen um ganz elementare Dinge wie die Gründung einer Interessenvertretung, bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen.

Die IG Metall hat Ende Oktober einen großen Aktionstag organisiert, bei dem sie einen sozialen und ökologischen Umbau der Industrie forderte. Glauben Sie, dass es im Zuge der Transformation der Wirtschaft Richtung Klimaneutralität und Digitalisierung zu vermehrten Arbeitskämpfen kommen wird?

Es wird im Rahmen der Transformation auf jeden Fall zu mehr Auseinandersetzungen kommen. Insbesondere in der Metallindustrie sind diese auch schon zu beobachten. Da gab es bereits eine erste Welle an Auseinandersetzungen mit Konflikten in der Stahlindustrie mit Höhepunkt im Jahr 2017; und eine zweite ab Ende 2019 im Automobilsektor.

Wie sahen diese Konflikte aus?

Das waren seitens der Gewerkschaften und Beschäftigen meist defensive Kämpfe, bei denen es im Gegensatz zu offensiven Kämpfen nicht um Verbesserungen, sondern die Abwehr von Verschlechterungen geht. Bei solchen defensiven Kämpfen geht es zum Beispiel darum, Standortschließungen oder Stellenabbau zu verhindern.

Werden solche defensiven Kämpfe anders ausgefochten als offensive Kämpfe? Sind sie erbitterter?

Nach unseren Streikmonitordaten sind circa 13,5 Prozent aller Arbeitskämpfe defensiver Natur. Sie sind nicht unbedingt härter, vielmehr ist die Logik eine andere. Häufig sind in den Betrieben, wo Abwehrkämpfe laufen, die Gewerkschaften bereits vertreten. Dafür können offensive Kämpfe schneller zu Ende geführt werden, weil man sich nach einer kurzen Streikzeit mit dem Arbeitgeber auf Verbesserungen einigen kann.

Glauben Sie, dass der Anteil dieser defensiven Streiks im Rahmen der Energiewende zunehmen wird?

In einigen Bereichen wird das durchaus der Fall sein. Es werden aber vermutlich nicht alle Kämpfe in diesem Rahmen defensiv geführt werden. Im Bereich Verkehr und Mobilität werden die Kämpfe vermutlich anders laufen. Da gibt es zum Beispiel schon Bündnisse zwischen Verdi und Fridays for Future. Das kann man nur bedingt mit den Abwehrkämpfen in Teilen der Automobilindustrie oder gegen die Werftenschließungen vergleichen.

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