- Politik
- Kriegsverbrechen in der Ukraine
Erschossen, vergewaltigt, gedemütigt
Die Liste belegbarer Kriegsverbrechen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung wird jeden Tag länger
Sechs große Löcher hatte ihr Vater Valeryi im Rücken, ihre Mutter Nataliya ein kleineres in der Brust, erzählte die 18-jährige Kateryna Tkachowa Mitarbeitern von Amnesty International (AI). So habe sie ihre Eltern am 3. März auf der Straße gefunden; zuvor waren russische Militärfahrzeuge durch ihr Dorf Worsel gefahren, zehn Kilometer östlich von Irpin, Kateryna hatte nur die Schüsse gehört. Beide seien unbewaffnet und in Zivil gekleidet gewesen. Ein Freiwilliger, der an Evakuierungen beteiligt war, half Kateryna, Worsel zu verlassen, und bestätigte AI, die Leichen auf der Straße in der Nähe ihres Hauses liegen gesehen zu haben. AI berichtet auch von einem - verifizierten - Video, auf dem Kateryna und der Freiwillige zu sehen seien, wie sie zusammen die Namen, Geburts- und Todesdaten von Katerynas Eltern auf ein Stück Pappe schreiben und neben die mit Decken bedeckten Körper legen.
In einem anderen Fall habe etwa eine 46 Jahre alte Frau aus Bohdaniwka nordöstlich von Kiew berichtet, dass russische Soldaten in ihr Haus eingedrungen seien. Dann hätten sie ihren Mann nach Zigaretten gefragt, er hatte aber keine: Erst schossen sie ihm in den Arm, dann in den Kopf, sagte die Frau. Ihr Mann habe noch sechs Stunden lang geatmet, bis er in der Nacht gestorben sei. Ein Nachbar hat laut Amnesty gesehen, wie die russischen Soldaten in das Haus eingedrungen seien. Dieser will auch den zusammengebrochenen Körper des Mannes im Heizungsraum gesehen haben. Die 46-jährige Frau sei mit ihrer 10-jährigen Tochter noch am selben Tag geflohen.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann
Eine Frau in einem Dorf östlich von Kiew berichtete AI, dass am 9. März zwei russische Soldaten in ihr Haus eingedrungen seien, ihren Mann getötet und sie wiederholt mit vorgehaltener Waffe vergewaltigt hätten, während sich ihr kleiner Sohn in einem nahe gelegenen Heizungsraum versteckte. Der Frau sei dann die Flucht aus dem Dorf in ukrainisch kontrolliertes Gebiet gelungen.
Dies sind nur drei der Vorfälle, die Ermittler von Amnesty International dokumentiert haben. Ein Amnesty-Team sprach demnach in den vergangenen Wochen mit mehr als 20 Menschen aus Orten nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiew, die russische Gewalttaten miterlebt oder unmittelbar Kenntnis von den Gewalttaten erhalten hätten. Man habe alle Fälle »quergecheckt« und sich die Aussagen von weiteren Quellen bestätigen lassen, sagte ein Amnesty-Sprecher der Deutschen Presse-Agentur.
Mit jedem Tag kommen mehr Gräueltaten im Ukraine-Krieg ans Licht, Berichte und Beweise für mutmaßliche Kriegsverbrechen durch die russische Armee häufen sich. »Die schockierenden Bilder aus Butscha sind ganz offensichtlich nur die Spitze eines Eisbergs der Grausamkeit und Brutalität«, sagt Janine Uhlmannsiek, Expertin für Europa und Zentralasien bei Amnesty International in Deutschland. »Russische Truppen haben unbewaffnete Menschen willkürlich erschossen, eine Frau wurde mit vorgehaltener Waffe mehrfach vergewaltigt, nachdem die Soldaten ihren Mann getötet hatten.«
Alle Belege würden dafür sprechen, »dass wir es hier mit Kriegsverbrechen zu tun haben«, so Uhlmannsiek. »Die internationale Gemeinschaft steht in der Pflicht, alles zu tun, damit die Verantwortlichen für diese Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden - auch die Personen ganz oben in der Befehlskette.«
Russische Streitkräfte haben in der Ukraine Zivilisten in offensichtlichen Kriegsverbrechen außergerichtlich hingerichtet, schreibt Amnesty International. Die befragten Personen hätten wiederholt von »vorsätzlichen Tötungen, rechtswidriger Gewalt und weitverbreiteter Einschüchterung durch russische Streitkräfte gegen unbewaffnete Zivilisten in der Region Kiew« berichtet, so AI. »In den letzten Wochen haben wir Beweise dafür gesammelt, dass die russischen Streitkräfte außergerichtliche Hinrichtungen und andere ungesetzliche Tötungen begangen haben, die als Kriegsverbrechen untersucht werden müssen«, sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International. Zeugenaussagen zufolge seien unbewaffnete Zivilisten in ihren Häusern und Straßen »mit unsäglicher Grausamkeit und schockierender Brutalität« getötet werden. »Die vorsätzliche Tötung von Zivilisten ist eine Menschenrechtsverletzung und ein Kriegsverbrechen. Diese Todesfälle müssen gründlich untersucht werden, und die Verantwortlichen müssen strafrechtlich verfolgt werden.«
Auch der Bürgermeister von Irpin, Olexander Markuschyn, hat Russland schwere Kriegsverbrechen vorgeworfen. Die russische Truppen hätten die Männer von Frauen und Kindern getrennt, sagte er am Donnerstag der Zeitung »Ukrajinska Prawda« zufolge. »Diejenigen, die ihnen nicht gefielen - und das sind Fakten, es gibt Zeugen -, haben sie erschossen. Diejenigen, die nicht gehorchten, haben sie erschossen«, so Markuschyn. Die Toten seien dann absichtlich von Panzern überrollt worden.
Bei einem Besuch in Butscha hat der UN-Koordinator für humanitäre Hilfe, Martin Griffiths, eine Untersuchung der Gräueltaten angekündigt. »Der nächste Schritt ist die Durchführung von Untersuchungen«, sagte er am Donnerstag vor Ort. »Die Welt ist zutiefst schockiert«, betonte Griffiths, der zuvor auch in Moskau war, um sich für eine Waffenruhe im Ukraine-Krieg einzusetzen.
Unterdessen zirkuliert dem »Spiegel« zufolge seit Tagen im Netz ein Video, das die Hinrichtung eines verletzten russischen Soldaten von Ende März zeigen und von der »New York Times« verifiziert worden sein soll. Es zeige laut »New York Times« die gesetzeswidrige Tötung des Soldaten durch ukrainische Kämpfer bei Dmytrivka nahe der Stadt Butscha. Im Video würden mehrere russische Soldaten in Blutlachen liegen. Einer bewegt sich, woraufhin ein ukrainischer Kämpfer Schüsse auf den Mann abfeuert.
In der neuen App »nd.Digital« lesen Sie alle Ausgaben des »nd« ganz bequem online und offline. Die App ist frei von Werbung und ohne Tracking. Sie ist verfügbar für iOS (zum Download im Apple-Store), Android (zum Download im Google Play Store) und als Web-Version im Browser (zur Web-Version). Weitere Hinweise und FAQs auf dasnd.de/digital.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.
Vielen Dank!