Trag die Neugier rum

Es geht um die Freyheit im Wir, in Myanmar und im Regen: Das Moers Festival zu Pfingsten

Maultaschenstreifen, Spätzle, Kartoffelsalat und ein Klecks Krautsalat mit Kümmel. Das ist der »Schwabenteller« für 10 Euro, den ich mir am frühen Samstagabend an einem Imbiss-Stand beim 51. Moers-Festival bestellt habe. »Weil’s guad isch«, steht da geschrieben. Soll ich oder soll ich nicht? Das essen? Nein, in den Park gehen und Lightning Bolt anhören? Denn es regnet in Strömen, geradeso klemme ich mich unter das Vordach vom Imbisstand. Auf dem Kühlschrank vor mir in Augenhöhe klebt ein Zettel: »Habe ich verstanden, mache ich aber nicht.« Doch, mache ich. Lightning Bolt sind dann auch der Hammer. Als sie anfangen, hat der Regen aufgehört. »Weil’s guad isch«?

Lightning Bolt kommen aus Rhode Island, dem kleinsten US-Bundesstaat. Die Band besteht aus zwei Brians: Brian Gibson am Bass und Brian Chippendale am Schlagzeug, der auch singt. Dazu klebt er sich ein Mikrofon direkt vor den Mund, eine Art Mikrofonatmung, die einschneidende Halleffekte ergibt. Und Gibsons Bass klingt so, als würde er damit Raketen starten. Die beiden Brians schwimmen in Echos und Effekten. Und bitten die Zuschauer auf die Bühne, die dann direkt vor ihnen stehen. Oder besser: sich zur Musik winden.

Das ist Punk-Avantgarde-Metal. Auf einem Jazzfestival. Hatten nicht Back Flag, die Urväter des Hardcore, schon in den 80ern gemeint, ihre Musik sei so etwas wie Jazz? Anderseits heißt diese Veranstaltung seit den Nullern »Moers Festival« und nicht mehr »Internationales New Jazz Festival«, als das es einst gegründet wurde. Es ging damals um Free Jazz, die wirklich wilde Musik der 68er-Revolte (das war nicht der Rolling-Stones-Rock). Damals, als der Saxophonist Peter Brötzmann beim Westberliner Jazzfest eingeladen wurde und dann nicht auftreten durfte, weil er sich weigerte, einen Anzug zu tragen.

Bis heute ist Moers ein unkommerzielles Festival, um ein magisches Wort aus alter Zeit zu gebrauchen. Als die Hippies das alternative Leben erfanden. Es findet immer zu Pfingsten statt, ist sehr freundlich und zugewandt. Mutmaßlich das Beste, was Hippiekultur, Schülertheater und Free Music in der BRD hervorgebracht haben. Hier gibt es die Musik, die ansonsten als unhörbar gilt und kaum gespielt wird. Man kann viele Entdeckungen machen. Erstaunlicherweise war auf dem »Schwabenteller« der Krautsalat am leckersten.

Es gibt kleine tragbare Holzbänke, auf denen »Neugier« steht, die man rumtragen kann, und in der großen Halle gibt es Teppiche zum Sich-Hinlegen und Die-Augen-Schließen. Wenn beispielsweise das Parallel Double Saxophone Quartet spielt: Acht Saxophonist*innen aus sechs Ländern improvisieren zwischen Gesumm und Getröt, zwischen weich und infernalisch. Sie wissen schon, für den Spannungsbogen.

Hier fährt ein kleines Auto im Schrittempo durchs Gelände, hinten drauf immer zwei Musiker, die aber wechseln: Schlagzeug und Dudelsack, Gitarre und Drums oder im Regen eine Klavierspielerin unter einer Plane. Desweiteren gibt es ein Festival im Festival: »Annex«, gedacht zum freien Jammen, organisiert von Musikern aus der Region. Auf dem Schulhof des Gymnasiums Filder Benden, das ins Festivalgelände integriert ist. In dessen Aula sind Techno-Klanginstallationen des Kollektivs Recursion zu hören. Davor haben Schüler*innen ihre eigenen Installationen hingestellt: etwa einen Holzkreisel, der an einen Marshall-Verstärker angeschlossen ist, wenn man ihn dreht, klingt das wie Dub.

In der Turnhalle der Schule findet die Diskussionsreihe »Jüdische Gegenwarten« statt, in der es um »jüdische Diversität und die damit verbundene Vielstimmigkeit« geht, um die »Freyheit«, jiddisch geschrieben. Das sind mehr Informationsveranstaltungen, es gibt eine Talmud-Lesung und eine Einführung in die »Intersektionale Antisemitismuskritik«. Der Ukraine-Krieg, nach wie vor das Medienthema, interessiert dabei weniger. In der Diskussionsrunde »Freyheit – nur möglich in der Bubble?« hält der Moerser Ex-Pfarrer Reinhard Schmeer eine Kopie von Otto Pankoks berühmtem Holzschnitt »Christus zerbricht das Gewehr« hoch, weil er die andauernden Frontberichte nicht mehr hören könne. Doch das Publikum will lieber über die Querdenker-Demos reden. Dafür interessieren sich die Hippies.

Ein Musiker behauptet, diese Demos seien nicht so rechts gewesen, eine Frau meint, »die Politiker« hätten versagt. Dem widerspricht das Podium, darunter auch Felix Klein, der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, höflich, aber bestimmt. Der junge Bundestagsabgeordnete Jan Dieren aus Moers, der als einer der ganz wenigen SPDler gegen die 100 Milliarden-Aufrüstung gestimmt hat, sagt, statt auf »die Politiker« zu schimpfen, sollte man sich besser selbst um Politik kümmern. Auch das ist ein klassischer Hippieansatz. Die Sängerin Almut Kühne meint, es gebe nur eine »Freyheit im Wir«, während vom Schulhof her ein Saxophon reinquakt.

Am Tag zuvor war die israelische Musikerin und Performancekünstlerin Maya Dunietz in der großen Halle aufgetreten, mit dem Meitar Ensemble und ihrem Liedzyklus »Hai Shirim«, für den sie den Mädchenchor des Essener Doms einzelne Strophen arabischer Gedichte einsingen ließ. Dazu gab es Soli am Fagott von Nadav Cohen: Fagott-Solo? So etwas hört man selten, höchstens in Moers.

Lightning Bolt spielen auf der Freiluftbühne, die »AmViehTheater am Rodelberg« heißt, weil diese Wiese so abschüssig ist. Wenn es nicht regnet, kann man sich dort prima ins Gras legen und die Bands betrachten. Liturgy treten auf, berühmter Black-Metal aus New York. Das hört sich teilweise so verzerrt an, als würde ein Lied aus den 90er Jahren anrufen – mit einem Telefonmodem aus den 80ern. Einen Tag später führt die Liturgy-Sängerin und Gitarristin Hunter Hunt-Hendrix in der Halle eine feministisch-mystische Oper mit 11-köpfiger Besetzung auf: »Origin of the Alimonies«. Es geht irgendwie darum, wie die patriarchale Gewalt in die Welt kommt, die Musiker spielen nach Noten und hinter der Bühne läuft zur Illustration ein Stummfilm mit Texttafeln wie »My wound is stronger than me…And God is in us… For heavenly eternity.« Die dunkle Macht der Rockmusik. Also, wenn Sie mich fragen: ziemlicher Quatsch im Überwältigungsformat.

Das beste Konzert war für mich »Three Fingers in the Dark«, in das der Musiker und Festivalleiter und Musiker Tim Isfort einführte: Er berichtete, dass sich aus einer Konzertreise deutscher Musiker in Myanmar, die das Goethe Institut vor zehn Jahren finanziert hatte, sich künstlerische Kollaborationen, Freundschaften, ja sogar Ehen entwickelt hätten. Doch seit dem Militärputsch im Februar 2021 können Musiker Myanmar nicht mehr verlassen. Und so spielen nun sechs Musiker in Moers mit vier Musikern, die sich in Myanmar befinden. Aber nicht live über das Internet, was vielleicht vom Sound zu wacklig geworden wäre, sondern zu einem Video, das die vier in Myanmar zuvor aufgenommen hatten. Das klappt sehr gut und ist perlend und groovy mit symphonischen Signaturen. Das Drei-Finger-Zeichen ist das Symbol der Demokratiebewegung in Myanmar. Zum Schluss dieses Sets wird auf der Leinwand großer Krach eingespielt: Menschen schlagen auf Kochtöpfe, aber man sieht sie nicht. Nur hellerleuchtete Zimmer in Häusern über leeren Straßen – Ausgangssperre. »This Song is called ›Liberation‹ « hatte Hunter Hunt-Hendrix ein Lied von Liturgy angekündigt. Und dann ging es ab.

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