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Plötzlich Favoritinnen

Die deutschen Fußballerinnen träumen nach ihrem Gala-Auftakt schon vom EM-Finale in Wembley

  • Frank Hellmann, London
  • Lesedauer: 5 Min.
Lena Oberdorf (r.) gab im Mittelfeld die defensive Kampfbereitschaft vor. Der Rest des deutschen Teams folgte eindrucksvoll nach.
Lena Oberdorf (r.) gab im Mittelfeld die defensive Kampfbereitschaft vor. Der Rest des deutschen Teams folgte eindrucksvoll nach.

London mag ja viele Vorzüge haben, von der Sonne verwöhnt ist die englische Hauptstadt aber eher nicht. Umso mehr haben die Menschen ein Wochenende mit wolkenlosem Himmel und Temperaturen jenseits der 30 Grad genossen, wobei es die Einheimischen dann eher nicht nach South Bank mit seinen Sehenswürdigkeiten von London Eye bis Tower Bridge ans Themseufer zieht. Stattdessen strömen viele nach Westen, raus an die Riverside in Richmond, wo sich abseits des touristischen Trubels das Leben noch viel liebevoller gestalten lässt. Nicht weit weg auf der anderen Flussseite liegt der Syon Park, in dem das deutsche Frauen-Nationalteam wohnt. Und eitel Sonnenschein herrscht auch hier beim Tross des Deutschen Fußball-Bundes (DFB).

Präsident Bernd Neuendorf hielt in der Nacht zu Samstag bei Pommes und Burger nach dem rauschhaften 4:0 gegen Dänemark eine Dankesrede und kündigte noch eine weitere Unterbrechung seines Urlaubs zu einem möglichen Halbfinale an. Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg spendierte derweil einen freien Nachmittag, ehe am Sonntagmorgen auf dem Gelände des Grashoppers Rugby Football Club auf feinem englischen Rasen wieder trainiert wurde. Gilt es doch, die erste Gala nun im zweiten Gruppenspiel gegen Spanien (Dienstag, 21 Uhr/ARD) zu bestätigen. Spanien habe zwar eine »super Mannschaft«, sagte die Bundestrainerin, aber: »Wir haben gezeigt, dass wir richtig was können.« Auch die zur besten Spielerin des Matchs gegen Dänemark gewählte Lina Magull sprach nach dem 4:0 von »einem schönen Zeichen in Europa«.

Tatsächlich hatte Fans und Fachleute der deutsche EM-Auftakt schwer beeindruckt. Das als Wundertüte bezeichnete DFB-Team mit seinem Mix aus den besten Kräften des FC Bayern München und des VfL Wolfsburg hatte einen perfekten Auftritt hingelegt, der nicht nur den zur deutschen Delegation gehörenden Joti Chatzialexiou ins Schwärmen gebracht hatte: »Es war tatsächlich das beste Spiel, was ich von unserer Mannschaft in meiner sportlichen Verantwortung bisher gesehen habe«, sagte der Sportliche Leiter der Nationalteams im deutschen Verband. Die rechte Hand von DFB-Direktor Oliver Bierhoff hatte Anfang 2018 die Frauen erstmals zu einem Einladungsturnier in die USA begleitet. Seine erste Amtshandlung war die sofortige Ablösung der überforderten Bundestrainerin Steffi Jones.

Nun hat ihre Nachfolgerin Voss-Tecklenburg – nach einer Übergangsphase unter Horst Hrubesch – die erste echte Bewährungsprobe nach der noch eher missglückten Weltmeisterschaft 2019 in Frankreich grandios gemeistert. Was Chatzialexiou besonders gefiel: »Wir haben endlich auch mal sehr selbstbewusst Fußball gespielt.« Man solle nun bloß weiter »mit einem Selbstverständnis spielen, dass wir die Mannschaft sind, die entscheidet, wer hier Europameister wird«. Das war mal eine Ansage, die man in den vergangenen Jahren so offensiv selten gehört hatte. Von dem Duell »zweier Titelanwärter« erwartet der 46-Jährige »eine große Werbung für den Frauenfußball«. Und dazu sollen ruhig noch mehr als die knapp sechs Millionen Fernsehzuschauer einschalten, die wie am Freitagabend daheim am Fernseher mitgefiebert hatten.

Der Respekt vor dem achtfachen Europameister ist nach diesem katapultartigen EM-Start enorm gewachsen. Die Experten beim britischen EM-Sender BBC überschlugen sich mit Lobeshymnen auf eine deutsche Elf, die im Viertelfinale schon auf die Gastgeberinnen treffen könnten. Das DFB-Team hatte gegen die Däninnen immense Lust daran gezeigt, nicht nur kreativ mit dem Ball, sondern auch aktiv gegen den Ball zu arbeiten. Besonders beliebt: Das Grätschen in der gegnerischen Hälfte. Und so stellte Trainerin Voss-Tecklenburg neben einem »großartigen Teamwork und super Umschaltspiel« speziell die »große Defensivlust« heraus.

Ihr Matchplan gegen fahrige Vize-Europameisterinnen von 2017 ging hinten wie vorn auf. Das Pressing funktionierte noch nie so gut. Das erste EM-Tor der zu Tränen gerührten Anführerin Alexandra Popp als Einwechselspielerin fügte sich dann schließlich auch noch in ein harmonisches Gesamtbild ein. »Wir haben das Gefühl, wir können alle 23 Spieler reinwerfen – das ist eine tolle Basis«, freute sich Voss-Tecklenburg über ihren breiten EM-Kader.

Die 54-Jährige wirkte hernach unendlich erleichtert; von der Rheinländerin fiel fast sichtbar ein riesiger Ballast ab. Mit erhobenen Augenbrauen erklärte sie, wie wertvoll die Vorbereitung mit drei Trainingslagern gewesen sei. Endlich einmal hatte man genug Zeit, um ohne jede Rücksichtnahme auf Vereinsinteressen, ohne Ausfälle und bei nur einem einzigen Coronafall (Popp) die Systeme, Standards und Laufwege einzuüben. »Die Zeit in Herzogenaurach hat auch mit vielen Gesprächen dazu geführt, dass dieses Team in sich unheimlich gewachsen und gefestigt ist.«

Eine solche Stabilität wird es nicht nur gegen Spanien brauchen, sondern auch in einem möglichen Viertelfinale gegen Norwegen oder England. Es gibt inzwischen sogar aus dem deutschen Lager erste Stimmen, dass es auf dem Weg nach Wembley zum Endspiel am 31. Juli gar nicht so verkehrt wäre, früh gegen die Gastgeberinnen anzutreten. Nur die mit der Kapitänsbinde bedachte Svenja Huth trat ein bisschen auf die Bremse: »Bei aller Euphorie und aller Freude – und ich bin wirklich sehr, sehr stolz auf meine Mannschaft – wir sind noch ganz am Anfang!« Dunkle Wolken ziehen über London oft in Windeseile auf.

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