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  • Susan Sontag ehrt posthum Leonid Zypkin

Ohne Pausen und Punkte

Die Sehnsucht der sowjetischen Juden nach einem Leben ohne Diskriminierung: Leonid Zypkins Erzählung »Die Winde des Ararat« erstmals auf Deutsch

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 5 Min.

Der russisch-jüdische Schriftsteller Leonid Zypkin (1926–1982) ist ein Mythos, seit Susan Sontag Anfang der 1990er Jahre in einer Londoner Bücherwühlkiste zufällig eine englische Übersetzung seines Romans »Sommer in Baden-Baden« entdeckte und ihn zu den »schönsten, anregendsten und originellsten literarischen Werken des vergangenen Jahrhunderts« ernannte.

Der Roman kombiniert eine Reise Dostojewskis und seiner Frau Anna 1867 von Petersburg nach Deutschland mit einer hundert Jahre später erfolgenden Reise Zypkins von Moskau nach Leningrad. Thematisch umkreist er Dostojewskis fragwürdiges Bild des Judentums, formal ist er ein schier endloser Bewusstseinsstrom mit nur 34 Punkten und 11 Absätzen, durch Gedankenstriche locker zusammengehalten, also eine erzähltechnische Sensation.

Zypkin war Arzt wie der Großvater, der Vater und die Mutter. Nachdem er durch Stalins Terror und das Wüten der deutschen Wehrmacht in Minsk den größten Teil seiner Angehörigen verloren hatte, begann er in Ufa Medizin zu studieren. 1957 kam er nach Moskau an die Akademie der Medizinischen Wissenschaften, wo er beide Doktorgrade erwarb, als Pathologe wirkte und rund hundert wissenschaftliche Aufsätze verfasste. Eine Tante, Dozentin am Moskauer Institut für Weltliteratur, förderte seine Liebe zur Literatur. Gemeinsam mit ihr nahm er 1960 an der bewegenden Trauerfeier für Boris Pasternak teil. Seitdem bewunderte er die frühe Prosa Pasternaks, aber auch das Schaffen Marina Zwetajewas, Rilkes, Nabokovs und Kafkas. Der Arzt begann zu schreiben, anfangs Lyrik, später zwei autobiografische Erzählungen – 1973 »Die Brücke über den Fluss« und 1976 »Die Winde des Ararat«. Bis 1980 entstand der Roman »Ein Sommer in Baden-Baden«. Alles blieb Literatur für die Schublade, nichts davon fand den Weg zum sowjetischen Leser.

1977 emigrierte Zypkins Sohn Michail in die USA. Dem Ausreiseantrag der Eltern wurde nicht stattgegeben. Dem hochqualifizierten »otkasnik« (jemand, dem die Ausreise verweigert wird) wurden drei Gehaltsstufen gestrichen, am 15. März 1982 folgte die Entlassung. Am gleichen Tag erfuhr er, dass eine New Yorker Emigrantenschrift mit der Veröffentlichung seines ins Ausland geschmuggelten Romans »Sommer in Baden-Baden« begonnen hatte. Am 20. 3. 1982, seinem 56. Geburtstag, starb Leonid Zypkin.

Seine Erzählung »Die Winde des Ararat«, jetzt erstmals auf Deutsch, von Susanne Rödel kompetent übersetzt, weist eine ähnliche Struktur auf wie der große Roman »Sommer in Baden-Baden«: Dominant ist die innere Rede der beiden jüdischen Protagonisten, dem Moskauer Gerichtsmediziner Boris Lwowitsch und seiner Frau Tanja, aus deren personaler Optik sich das Weltbild des narrativen Textes erschließt. Die knapp 150 Seiten kommen ohne Punkte aus, Gedankenstriche markieren die Pausen zwischen den einzelnen Bewusstseinsschichten.

Ein Motto nennt die Arche Noah, die »auf dem Gebirge Ararat ruhte«, wie es im Ersten Buch Mose heißt. Boris Lwowitsch und seine Frau Tanja, haben am Schwarzen Meer Urlaub gemacht und im Anschluss daran eine Reise in den Kaukasus gebucht, die sie nach Armenien führt. Ihr Bewusstsein ist gespalten, zum einen geprägt vom Stolz des »sowok« (homo soveticus), zur geistigen Elite des Landes zu gehören, zum anderen gekränkt durch die staatlich sanktionierte Diskriminierung der Juden. Letztere erzeugt ein mit der Sowjetideologie nonkonformes Denken, das sich urplötzlich in den Erzähltext einschleicht. So erblicken die Reisenden nach dem Flug über Elbrus und Kasbek, bei der Annäherung an den Ararat ein Stück Türkei, mit Orten, »in denen Boris Lwowitsch nie war und höchstwahrscheinlich nie sein würde und in denen man mitten auf der Straße stehen bleiben und das herausschreien könnte, was man hier nicht zu flüstern wagte.« Als Boris Lwowitsch halb im Scherz, halb im Ernst Tanja zuraunt, sie würden in der Türkei landen, fragt sie ihn »nur mit den Lippen«: »Würdest du dort bleiben?« Und er bejaht die Frage.

Eine tiefere Schicht des Nonkonformismus wird in dem Kapitel »Gott mit uns« sichtbar. Bei der Besichtigung einer zum Museum umfunktionierten armenischen Kirche haben die Protagonisten eine Vision, in der die Kreuzigung Christi mit den Schreckensbildern der Judenverfolgung im zwanzigsten Jahrhundert zusammenfließt. Die Soldaten in den langen schwarzen Militärmänteln, mit aufgepflanzten Bajonetten, Stahlhelmen und dem »Gott mit uns« auf den Koppelschlössern, die ganze Kolonnen jüdischer Menschen vergasen, kennen sie aus dem Holocaust von Treblinka und Auschwitz. Die nach Wodka riechenden Krieger, die jüdische Kinder, Frauen und Alte töten, assoziieren sie mit den Schergen des Stalinschen Terrors. Auch für den Völkermord an den Armeniern von 1915/16 weist das Kapitel erschütternde Bilder auf.

Bei der Rückreise nach Moskau fragt sich Boris Lwowitsch, wie es sein kann, dass die türkischen Bauern vielleicht arm sind, aber dennoch Eigentümer ihrer Ländereien und keine Kolchosmitglieder. In Moskau werden sie von ihrem Sohn empfangen. Wir erfahren, dass er in seiner Schulzeit als Jude verhöhnt und geschlagen wurde, jetzt Erzählungen schreibt, »die man an keine Redaktion schicken kann« und eine Freundin »ohne Liebe« heiraten wird, um mit ihr ausreisen zu können. Seine Eltern hingegen werden sich damit abfinden müssen, in der UdSSR weiterhin als »Geiseln« zu leben und auf eine bessere Zukunft zu hoffen.

Leonid Zypkin: Die Winde des Ararat. A. d. Russ. v. Susanne Rödel. Aufbau-Verlag. 167 S., geb., 22 €.

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