Doppelter Vorteil

Die Ungleichheit bei den Einkommen ist zuletzt weniger stark gestiegen als zuvor. Was heißt das konkret? Wie wirkt die hohe Inflation?

Am kommenden Montag ist es soweit: Dann wird der Bundesregierung zufolge festgelegt, wie hoch die Gasumlage ist, die Privathaushalte und Unternehmen ab Oktober zahlen sollen. Zwischen 1,5 und 5 Cent pro Kilowattstunde könne sie liegen, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck. Für eine Familie mit einem Verbrauch von 20 000 Kilowattstunden könnten die jährlichen Gaskosten demnach um 357 bis 1190 Euro steigen, inklusive Mehrwertsteuer.

Schon jetzt sind die Preise für Strom, Gas und Heizöl enorm gestiegen, insgesamt war Haushaltsenergie im Juli rund 43 Prozent teurer als im Vorjahr, Lebensmittelpreise stiegen um fast 15 Prozent. Viele Menschen könnten bereits jetzt ihre Rechnungen für Gas und Strom nicht mehr zahlen, berichtet die Verbraucherzentrale Berlin. Denn Millionen Menschen haben schon lange wenig Geld – und andere viel. Zwar ist die Ungleichheit bei den Einkommen zuletzt nicht mehr so stark gestiegen wie früher. Aber was heißt das konkret, in Euro? Und wie wirkt sich nun die hohe Inflation aus?

Problem erkannt …

Nach der deutschen Einheit haben die einen über viele Jahre vom wachsenden Wohlstand profitiert, andere nicht. Das lässt sich an Daten ablesen, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) regelmäßig veröffentlicht. Die Wissenschaftler betrachten die verfügbaren Einkommen der Menschen, zu denen Nettogehälter, Kapitaleinkommen und Sozialtransfers gehören. Dann sortieren sie die Personen nach ihrem Einkommen und teilen sie in zehn Gruppen ein. Die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung hatten demnach im Jahr 2005 preisbereinigt sogar weniger Geld zur Verfügung als 1991. Die Nettoeinkünfte der reichsten Haushalte stiegen hingegen um fast 25 Prozent – die Ungleichheit wuchs.

Selbst Einrichtungen wie die Industrieländerorganisation OECD zeigten sich irgendwann besorgt: »Eine höhere Einkommensungleichheit macht es für talentierte und hart arbeitende Menschen schwerer, den Lohn zu erhalten, den sie verdienen«, sagte OECD-Generalsekretär Angel Gurría 2008. Das beeinträchtige die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit insgesamt.

… Problem hat Bestand

Seit ungefähr 2005 wächst die Ungleichheit laut DIW nicht mehr so stark, »sie verharrt aber auf hohem Niveau«, schreibt Verteilungsforscher Markus Grabka in einer Analyse vom verganenen Juni. Was über Jahre beklagt, kritisiert, skandalisiert wurde, ist also weiter da und bestimmt den Alltag von Armen und Reichen.

Einkommens-Verteilung: Doppelter Vorteil

Konkret bedeutet dies zum Beispiel: Alleinlebende, die zu den zehn Prozent der Ärmsten gehören, hatten zuletzt durchschnittlich 773 Euro im Monat zur Verfügung. Singles aus der Gruppe der Reichsten kamen auf mehr als das Siebenfache, nämlich 5692 Euro. Das zeigen Daten für 2019, die Grabka »nd.DieWoche« zur Verfügung gestellt hat und die auf der Haushaltsbefragung SOEP beruhen. Dabei sind extrem Reiche noch gar nicht erfasst, weil sie an Umfragen wie dem SOEP nicht teilnehmen.

Nun schießen ausgerechnet die Preise für Lebensmittel, Strom und Heizung in die Höhe – also für Güter des Grundbedarfs, für die ärmere Menschen einen Großteil ihrer Einkünfte ausgeben müssen. Wenn die Inflation dieses Jahr wie erwartet hoch bleibt, bedeutet dies: Das ärmste Zehntel der Haushalte muss 5,3 Prozent des Nettoeinkommens mehr aufwenden, um genauso viel wie im Vorjahr konsumieren zu können. Beim reichsten Zehntel sind es dagegen nur 1,1 Prozent, so eine DIW-Berechnung. Die Forscher sind dabei davon ausgegangen, dass die Einkommen wie in den vergangenen Jahren steigen. 1000 Euro mehr für Gas – das ist für eine Familie aus der reichsten Gruppe mit einem Jahreseinkommen von über 140 000 Euro relativ wenig und für eine arme Familie mit 19 000 Euro relativ viel. Die Wohlhabenden sind also doppelt im Vorteil: Sie haben ohnehin hohe Einkünfte und sind weniger vom Preisanstieg betroffen.

Die bisher beschlossenen Hilfen entlasten nach der DIW-Analyse alle Haushalte, gleichen die höheren Preise aber nicht ganz aus. Angesichts der hohen Energiepreise bestehe für Menschen im unteren Einkommensdrittel die Gefahr, dass sie im Herbst und Winter die Heizkosten nicht bezahlen können, sagte der Präsident des Mieterbunds, Lukas Siebenkotten, dem »Tagesspiegel«. Dies gelte insbesondere für Personen, die mit ihren Einkünften knapp oberhalb von staatlichen Transferzahlungen liegen, da Hartz-IV-Empfängern die Wohnkosten erstattet würden.

Verteilungsforscher Grabka plädiert für eine stärkere finanzielle Unterstützung von Menschen, die besonders von der Inflation betroffen sind. Zahlreiche Organisationen sehen das ähnlich. Der Mieterbund fordert etwa, dass mehr Menschen Wohngeld erhalten. Auch Politiker der Regierungsparteien SPD und Grüne halten zusätzliche Hilfen für Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen für nötig, konkreten Vorhaben liegen indes bislang nicht vor.

»Ein einmaliger Vorgang«

Die Gewerkschaften fordern auch deshalb staatliche Unterstützung, weil nach ihrer Einschätzung die Inflation nicht allein über höhere Löhne auszugleichen ist. Auch Ökonomen erwarten, dass die preisbereinigten Gehälter noch einmal schrumpfen – wie bereits im vergangenen Jahr. In Deutschland dürften die Reallöhne wie im EU-Durchschnitt 2022 um 2,9 Prozent sinken, berichtete die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung diese Woche: »Durch die hohe Inflation sind in allen EU-Ländern deutliche Reallohnverluste wahrscheinlich – ein in den vergangenen Jahrzehnten einmaliger Vorgang.«

Die Lohnungleichheit ist in den vergangenen Jahren zwar zurückgegangen, ein wichtiger Grund ist die Einführung des Mindestlohns 2015. Doch die Unterschiede sind weiterhin beträchtlich: Die am schlechtesten bezahlten zehn Prozent der Beschäftigten erhielten 2020 im Schnitt gerade einmal sechs Euro pro Stunde, brutto. Praktikanten und Auszubildende sind dabei nicht berücksichtigt. Das am höchsten vergütete Zehntel kam hingegen auf 45 Euro, zeigen DIW-Daten.

Dass viele Erwerbstätige nach eigener Auskunft nur um die sechs Euro bekamen, kann daran liegen, dass Unternehmen ihre Überstunden nicht bezahlt haben. Auch Minijobber werden oft um ihre Ansprüche geprellt. Auch mit einem Stundenlohn von zwölf Euro – dem künftigen Mindestlohn, für den bereits heute viele arbeiten – ist es schwierig, seine Existenz zu sichern. Die steigenden Preise machen es noch schwerer: Bei einer Vollzeitstelle kommt man damit auf knapp 2000 Euro brutto im Monat.

Wenig bis nichts haben schlecht bezahlte Beschäftigte von den Plänen zur Senkung der Einkommenssteuer, die Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner diese Woche vorgestellt hat: Bei einem Monatseinkommen von 1000 Euro beträgt die Entlastung null Euro, Menschen mit einem Gehalt von 2000 Euro würden 109 Euro weniger Steuern zahlen – und Personen mit 7000 Euro würden um 535 Euro entlastet, berichtet das »Handelsblatt« unter Berufung auf einen Steuerexperten. DIW-Chef Marcel Fratzscher bilanzierte auf Twitter: »Dieser Plan ist kein Inflationsausgleich, sondern eine Umverteilung von unten nach oben.«

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