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Ein verpasstes Signal

Auch gegen England können die deutschen Fußballer nicht siegen. So bleibt viel Skepsis vor der WM

  • Frank Hellmann, London
  • Lesedauer: 4 Min.
Mit vielen Ball-Eroberungen, starken Dribblings und zwei Torvorbereitungen spielte sich Jamal Musiala (2. v. r.) wohl endgültig in die DFB-Stammelf.
Mit vielen Ball-Eroberungen, starken Dribblings und zwei Torvorbereitungen spielte sich Jamal Musiala (2. v. r.) wohl endgültig in die DFB-Stammelf.

Für einen kurzen Moment sah Thilo Kehrer so ratlos aus wie die vielen Touristen, die das erste Mal auf den Plan der London Unterground blicken. Nur starrte der deutsche Nationalspieler nicht auf verwirrende bunte Linien, sondern in den Nachthimmel über dem Wembley-Stadion, dessen gigantischer Stahlbogen gerade rot-weiß-rot leuchtete. Der zu West Ham United gewechselte deutsche Verteidiger hatte gefühlt Dutzende von Fragezeichen auf der Stirn, als er mit Schlusspfiff des anfangs zähen, später spektakulären 3:3 gegen England an der Außenlinie verharrte. Da hinterfragte einer mit in die Hüften gestemmten Händen den Stellenwert des Länderspiel-Klassikers und den Leistungsstand einer deutschen Auswahl, die sich keine zwei Monate vor der umstrittenen WM in Katar (20. November bis 18. Dezember) selbst ein Rätsel geworden ist. Weshalb auch kaum einer der deutschen Protagonisten – mit Ausnahme des spät eingewechselten Thomas Müller – später den versammelten Journalisten irgendetwas sagen wollte.

Dafür sprach Bundestrainer Hansi Flick. Der 57-Jährige hat in seinem Berufsleben die Erfahrung gemacht, dass er seine Mitmenschen besser erreicht, wenn das Glas noch halb voll und nicht schon halb leer ist. »Ich bin von Haus aus positiv«, stellte der Heidelberger seiner Grundsatzerklärung aus der Fußball-Kathedrale voran. Und versprach sogleich: »Wenn wir uns Mitte November treffen, gehen wir mit einem positiven Gefühl zur WM. Viele Sachen haben wir gut gemacht.«

Flick spielte nach dem Wellenbad von Wembley bewusst den Gesundbeter. »Ich bin eher ein Trainer, der die Spieler lieber einen Kopf größer macht. Das bringt am Ende vielleicht den einen oder anderen Sieg mehr.« Gleichwohl war seine Mannschaft knapp sieben Wochen vor dem Abflug in den Oman, wo man sich mitsamt einem Testspiel für die WM auf der Arabischen Halbinsel akklimatisieren will, ein siegreiches Signal schuldig geblieben. Auch der Direktor des Deutschen Fußball-Bunds (DFB), Oliver Bierhoff, war mächtig verärgert über das verpasste Erfolgserlebnis: Der 54-Jährige spürt, wie die im ersten Flick-Jahr geschürte Aufbruchstimmung bereits wieder verfliegt.

Das DFB-Team hat von sechs Nations-League-Partien gegen England, Italien und Ungarn nur eines gewonnen – gegen die B-Elf des nicht für die WM qualifizierten Europameisters Italien. Gegen keine Topnation zog die Mannschaft ihren Plan bislang über die volle Spielzeit durch. Das mag im Gegensatz zur WM 2018 diesmal in der Gruppenphase gegen Japan, Spanien und Costa Rica gut gehen, aber schon in einem WM-Achtelfinale gegen Belgien oder Kroatien wäre Deutschland nicht mehr Favorit. Stand jetzt. Zwar gilt der Fokus zunächst nur dem WM-Auftakt gegen die nicht zu unterschätzenden, weil enorm selbstbewussten und gut eingespielten Japaner, aber ein Titelanwärter ist der vierfache Weltmeister mitnichten – dafür steckt zu viel Wundertüte im deutschen Team.

Die Leistungsschwankungen der Partien in Leipzig und London waren enorm. Darüber können auch die von Flick herausgehobenen »20 Minuten wirklich guten Fußball« am Montagabend nicht hinwegtäuschen. Die Lockerheit des Jungspundes Jamal Musiala – zusammen mit Torwart Marc-André ter Stegen und Doppeltorschütze Kai Havertz einziger Gewinner dieser Länderspiele – ging den meisten anderen Akteuren ab. Das Dilemma: Das Trainerteam hätte eigentlich bis zur Endrunde ganz viel Arbeit, aber Flick hat keine Zeit, mit seinen Spielern zu arbeiten. Auf die meisten seiner Protagonisten wartet jetzt ein schweres Herbstprogramm mit 13 Partien in Europapokal, Bundesliga und DFB-Pokal. Die Nationaltrainer von Europas Spitzennationen sind nunmehr nur noch Beobachter, nicht mehr Gestalter.

Das Einzige, was Flick tun kann: möglichst viele Spiele selbst beobachten, über eine digitale Plattform Trainingsinhalte teilen und persönliche Gespräche führen. Er riet bereits, »dass jeder Einzelne in dieser Zeit noch an sich arbeitet, für bessere Fitness, Sicherheit, Überzeugung, Passspiel. Da müssen wir noch besser werden. Das ist notwendig.« Schließlich kam in der ersten Halbzeit kaum ein Spielzug im Angriffsdrittel zustande, weil alles zu ungenau, zu verhalten angelegt war.

Zudem erschreckend, wieso ein 2:0-Vorsprung in diesem Prestigeduell so naiv verspielt wurde. Luke Shaw, Jason Mount und Harry Kane demonstrierten binnen elf Minuten, dass ein Topverteidiger wie Antonio Rüdiger auf deutscher Seite nicht fehlen sollte; einmal mehr verschuldete Vertreter Nico Schlotterbeck ungeschickt einen Strafstoß. Die plötzliche Feierlaune der zeitweise bereits völlig verstummten 78 949 Fans verdarben ein traditionell patzender englischer Keeper in Person von Nick Pope und der gedankenschnelle Kai Havertz mit seinem zweiten Treffer. Flick wusste: »So können wir das besser verkraften als eine Niederlage. Nicht aufzugeben ist das, was wir brauchen.«

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