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Musik gegen die Polizistenbande

In »Radio Nacht« von Juri Andruchowytsch kämpft ein altmodischer, melancholischer Sexist für die Freiheit, irgendwo in Osteuropa

  • Norma Schneider
  • Lesedauer: 5 Min.

Trotz der Kälte sammeln sich die Protestierenden Tag für Tag auf dem Poschtowa-Platz hinter den Barrikaden. Und Tag für Tag nimmt der ehemalige Rockstar Josip Rotzky an einem Straßenklavier Platz und spielt »Klassik, Jazz und Prog« gegen die »Polizistenbande mit ihren Knüppeln«. Das optimistische Motto der Aufständischen lautet: »Wir stoppen die Todesschwadronen mit einer Mauer aus Musik!« Bis die Panzer kommen und aus dem revolutionären Helden am Klavier ein Name auf einer Erschießungsliste wird.

Juri Andruchowytsch, der mit seinen Essays und literarischen Texten zu den wichtigsten intellektuellen Stimmen der Ukraine gehört, nimmt in seinem neusten Roman »Radio Nacht« die Umbrüche und Kontinuitäten im Osteuropa des 21. Jahrhunderts in den Blick. Einmal mehr verwebt er dabei meisterhaft Motive aus Mystik, Literatur und Popkultur zu einem vielschichtigen Panorama, aus dessen Unschärfe die realen Ereignisse umso deutlicher hervortreten. Die Schilderungen erinnern an den Euromaidan in der Ukraine, aber auch an die niedergeschlagenen Proteste in Belarus, an die Brutalität des Putin-Regimes und die Besetzung ukrainischen Gebiets durch russische Truppen.

Im Zentrum des Romans steht der eigenbrötlerische Rockmusiker Josip Rotzky. Der Name ist, wie es am Anfang des Textes heißt, ein »Hybrid« aus den Schriftstellern Joseph Roth und Joseph Brodsky und erinnert zusätzlich an Leo Trotzki. In jedem Fall verweist der Name auf ein von politischer Verfolgung und Exil geprägtes Schicksal zwischen Ost und West. Rotzkys Geschichte, in der Andruchowytsch Realistisches mit eher Unwahrscheinlichem bis hin zu Fantastischem vermengt, führt von Gauklern im 15. Jahrhundert bis zu den politischen Konstellationen der Gegenwart. Erzählt wird die Geschichte von einem Autor, der sich im Auftrag des »Internationalen Interaktiven Biografischen Komitees« auf Rotzkys Spuren begibt. Unterbrochen werden die Schilderungen des Biografen von einer nächtlichen Radiosendung, in der Rotzky selbst von seinem Leben erzählt, über Gott und Teufel philosophiert und natürlich die passende Musik auflegt. Einen Link zur Playlist findet man gleich am Anfang des Buchs.

Besonders sympathisch ist Rotzky nicht, er ist ziemlich von sich eingenommen und »ein altmodischer, patriarchalischer, melancholischer Sexist«, der trotz seiner revolutionären Gesinnung letztlich auffallend passiv und abhängig von seinem Umfeld bleibt. Seine Karriere als Musiker führt ihn von Band zu Band, von Folk über New Wave und Punk bis hin zu Death Metal und »Zen-post-ambient«. Sein liebstes Instrument bleibt dabei immer das Klavier. Als seine Karriere ins Stocken gerät, schlägt Rotzky sich als Pianist auf Kreuzfahrtschiffen durch.

Anschließend kehrt er in sein Heimatland zurück, wo es bereits brodelt: Die Politik »kroch ins Private und mischte sich ins Alltägliche«, Protestierende sammeln sich in der Hauptstadt, um gegen das Regime zu demonstrieren, und Rotzky setzt sich ans Straßenklavier. Nach dem Scheitern der Revolution entkommt Rotzky gerade so den Fängen des Geheimdienstes, und es verschlägt ihn in die Schweiz, wo er sich als Hotelpianist versucht.

Als im Hotel ein Gipfeltreffen abgehalten wird, an dem auch »der vorletzte Diktator Europas«, der über Rotzkys Heimatland herrscht, teilnehmen soll, ergibt sich für Rotzky die unerwartete Chance, mit einem Attentat doch noch zum revolutionären Helden zu werden. Die offizielle Ankündigung des Gipfeltreffens ist nur eines von vielen Beispielen für Andruchowytschs pointierten politischen Humor: Man erwarte sich von dem Gipfel »ein, wie wir hoffen, freundschaftliches Arbeitsgespräch unserer Meister des demokratischen Dialogs mit dem vorletzten Diktator der östlichen Partnerschaft (…) für Frieden, Sicherheit, Stabilität und Wachstum, für den ungestörten Fluss von Waren und Kapital, den garantierten Transit von Energieträgern«.

Auch wenn das Attentat nicht ganz nach Plan verläuft – es läutet dennoch das Ende des »vorletzten Diktators« ein. Doch in Rotzkys Heimatland verändert sich daraufhin nur wenig, die Strukturen des Regimes sind stark, es formiert sich neu. Als Rotzkys Biograf die Bürger*innen wenige Jahre später zur Revolution befragt, will sich niemand mehr daran erinnern, niemand will etwas damit zu tun gehabt haben. Kein Wunder, denn: »Eine Staatsmacht dieses Typs verdirbt die Menschen noch schneller als sich selbst«, wie der Erzähler feststellt.

Rotzky flieht nach Nashorn, eine ungewöhnliche Stadt in den Karpaten, die ein »freundliches, postliberales Image« pflegt und zum Zufluchtsort für viele wird, die wie Rotzky zur Emigration gezwungen wurden. Er bezieht eine Wohnung über dem Club »Xata morgana«, wo er bald jeden Donnerstag Musik auflegt und neue Verbündete findet – zum Beispiel den zweihundert Jahre alten Raben Edgar und den Clubbesitzer Meph, der über nützliche Kontakte in die Unterwelt verfügt. Rotzky kann durchatmen – bis die Diener des Regimes ihm erneut auf die Spur kommen und eine abenteuerliche Odyssee durch Europa beginnt.

Wie stets in seinen Romanen präsentiert Andruchowytsch in »Radio Nacht« einen literarisch hochanspruchsvollen Genremix, in dem sich Märchenhaftes genauso findet wie Komödiantisches. Anklänge an die Popliteratur sind ebenso vorhanden wie Anspielungen auf Klassiker der Weltliteratur. Rotzkys Geschichte ist ein fantastisches, unterhaltsames Spiel, das nie den politischen Ernst des Ganzen vergessen lässt. In diesem außergewöhnlichen Roman steckt der zwar vergebliche, aber dennoch unerschütterliche Glaube, dass Musik etwas verändern kann und stärker ist als Polizeiknüppel und Panzer.

Juri Andruchowytsch: Radio Nacht. A. d. Ukrain. v. Sabine Stöhr, Suhrkamp, 472 S., geb., 26 €.

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